Meeresrauschen
Weile.
Ihr schmales Gesicht war bleich geworden, sodass die wenigen
goldfarbenen Sommersprossen auf ihrer Nase, die ich so
niedlich fand, deutlich hervortraten.
»Und? Hast du ihn zurückgeküsst?«, fragte sie nach einigen
Sekunden angespannter Stille.
Ich hatte Mühe, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Wieder sah ich Frederiks totenbleiches Gesicht vor mir,
und noch immer konnte ich es kaum fassen, dass ich ihn beinahe
umgebracht hätte.
»Nein«, log ich. »Im Gegenteil: Ich habe ihm deutlich klargemacht,
dass wir nicht zusammenpassen.« – Was ja nun wiederum
alles andere als geschwindelt war.
»Ts.« Ein gequältes Lächeln umspielte Sinas Mundwinkel.
»Und mir gegenüber hat er so getan, als ob ich so etwas wie die
Taube auf dem Dach sei, die eher durch Zufall in seine Hände
geflogen ist und die er nun nie wieder loslassen will.«
»Das ist ein hübsches Bild«, sagte ich. »Allerdings mit einem
kleinen Makel …«
Sina sah mich fragend an. Ihr Blick war offener geworden,
und ich war mir sicher, dass wir das Schlimmste überstanden
hatten.
»Tauben müssen fliegen können«, fuhr ich eindrücklich fort.
»Aber das will ich doch gar nicht!«, erwiderte sie beinahe
empört. »Ich bin verrückt nach ihm, ich würde alles …«
»Würdest du nicht«, fiel ich ihr ins Wort. »Na ja, zumindest
solltest du ihm nicht zeigen, dass du es würdest«, fügte ich lächelnd
hinzu. »Wahrscheinlich braucht Frederik einfach ein
bisschen Zeit. Ich finde, ihr passt gut zusammen. Und irgendwann
wird auch er dahinterkommen. Und zwar am ehesten,
wenn du dich nicht so an ihn hängst, sondern ihm signalisierst,
dass du ziemlich unabhängig und auf ihn schon mal gar
nicht angewiesen bist.«
»Ach, Mensch, Elodie!« Ehe ich mich versah, saß Sina neben
mir und schlang ihren Arm um meinen Hals. »Ist es nicht vor
einer irre langen Zeit mal so gewesen, dass von uns beiden
ich
die mit den guten Ratschlägen war?«
»Zumindest warst du immer die Klügere«, sagte ich und verpasste
ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Und die solltest du
auch bleiben … und zwar in allen Lebenslagen.«
Es war schon erstaunlich, was sich auf dem kurzen Abschnitt
zwischen zwei Bahnstationen zwischenmenschlich bewegen
ließ. Okay, Sina und ich hatten eine Vorgeschichte – schließlich
waren wir schon seit Ewigkeiten beste Freundinnen, und
daran ließ sich trotz der Distanz, die sich in den letzten Wochen
zwischen uns aufgebaut hatte, offenbar ziemlich gut anknüpfen.
Jetzt jedenfalls spazierten wir Hand in Hand durch den
Park, und während ich meinen Blick sehnsüchtig über die
Teiche schweifen ließ, plapperte Sina in einer Tour durch. Innerhalb
von einer Viertelstunde erhielt ich einen kompletten
Überblick über sämtliche mehr oder weniger relevanten Ereignisse
der letzten Wochen.
So erfuhr ich zum Beispiel, dass die neue Englischlehrerin
im vierten Monat schwanger war, Janniks Mutter eine Blinddarm-OP über sich hatte ergehen lassen müssen und Sarah
heimlich in ihren fast dreißigjährigen Nachbarn verliebt war.
Außerdem hatte Bille sich als lesbisch geoutet und war deswegen
von ein paar Typen aus dem Mathe-LK ziemlich übel
angemacht worden.
Ich hörte stillschweigend zu, gab hin und wieder ein »Nee,
oder?«, »Ach, Gott!« oder »Ist nicht wahr!« von mir und war
insgeheim ziemlich froh darüber, dass Sina meine Bemerkung,
ich sei eine Nixe, offenbar nicht ernst genommen hatte.
Doch als wir den Friedhof erreichten, stand Sinas Mundwerk
mit einem Schlag still. Ihre Schritte wurden langsamer,
der Griff ihrer Hand dafür umso fester.
Mein Vater war sechs Tage nach seinem Tod verbrannt worden,
seine Asche ruhte nun in einer Urne, die im anonymen
Teil des Friedhofs begraben worden war.
Ich hatte an der Einäscherungszeremonie nicht teilgenommen
und hatte es auch später nicht über mich gebracht hierherzukommen,
deshalb hatte Mam mir die Stelle und den
Weg dorthin genau beschrieben. Aber ich hätte das Grab auch
so gefunden, denn die Steine, die Pa einmal aus einem Urlaub
in Schottland mitgebracht hatte und die seitdem auf dem
Sideboard in seinem Arbeitszimmer gelegen hatten, fielen mir
schon von Weitem ins Auge.
Ein paar der schmalen Lichtstreifen, die die Sonne durch
das Laubdach der umstehenden Bäume schickte, tauchten die
Grabstelle meines Vaters in ein nahezu magisches Licht und
brachten die glitzernden Einschlüsse der im Kreis um ein dichtes
Büschel Maiglöckchen angeordneten Steine zum Funkeln.
»Oh, mein
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