Meerestochter
kurzer Zeit, so dicht am Wasser – das können wir uns nicht leisten. Wir müssen alles vermeiden, was ihre Aufmerksamkeit erregt.»
Unwillkürlich schauten beide zu der Grotte, in deren Eingang langsam der weiße Körper einer Frau getrieben kam. Das halblange braune Haar schwebte im Wasser wie die Tentakel einer Seeanemone. Aura gab den verschrumpelten Fußsohlen einen Stups, damit die Leiche ins tiefere Wasser glitt.
«Probleme», sagte Aura. Sie sah Ondra eindringlich an. «Es ist besser, wenn sie nichts von uns wissen. Sie würden niemals verstehen.»
Ondra löste sich von dem Felsen und umschwamm die tote Frau. Aura folgte ihr. Interessiert betrachteten sie das Gesicht mit den geschlossenen Augen, das eine Handbreit unter der Oberfläche lag. An den langen Wimpern und den Härchen auf ihrer Haut hatten sich kleine Luftblasen abgesetzt. Die Haut sah so weiß aus wie das Fleisch einer Muschel, selbst die Lippen wirkten blass, und die einst rosafarbenen Brustwarzen, die sich unter der nassen, sie umschwebenden Bluse abzeichneten, waren farblos und bleich.
Mitleid erfasste Ondra. Sie tauchte zum Grund und sammelte ein paar Muscheln, die sie der Toten auf die Brust legte. Aura flocht ihr Algen in die Haare. So umschwammen sie die stumme Leiche und schmückten sie, wie sie es für eine ihrer Genossinnen getan hätten. Dabei zogen sie sie Stück für Stück hinaus aufs offene Meer. Dort sollte sie in den Tiefen versinken, die alles aufnahmen und keines ihrer Geheimnisse preisgaben.
Ondra, die noch immer an Adrian dachte, ließ sich von ihren Gefühlen überwältigen und küsste die Tote auf die Stirn. «Jetzt ist sie kalt wie wir», stellte sie fest.
«Nicht wie wir.» Entschieden schüttelte Aura ihre springenden Locken. «Sie ist kalt wie ein Stein.»
Ondra strich über die kühle Haut der Toten, um einen Rest dessen zu ertasten, was die Seele der Frau gewesen war, was sie bei jedem lebenden Wesen erfassen konnte, und selbst bei den Steinen mit ihrer langen Erinnerung, und in so überwältigender Weise bei ihm. Sie ließ den Atem ausströmen und öffnete ihren Geist. Da fühlte sie eine fremde Bewegung, schnell und verborgen, wie ein Fisch, der unter einen Stein flitzt.
«Raus aus meinen Gedanken», schrie Ondra und stieß den Eindringling mit all ihrer geistigen Kraft zurück.
Auf den Meermann, der in eleganten Bogen auf sie zugeschwommen kam, schien das nicht den geringsten Eindruck zu machen. Er lachte und zeigte seine makellosen Zähne in dem schönen Gesicht. Aus seinen kurzen blonden Haaren troff das Wasser. «Ganz der Vater», stellte er fest. «Du hast es drauf, Ondra.»
Sie streckte ihm die Zunge heraus. «Spar dir deine Sprüche für deine Menschenliebchen. Und die Schleimerei dazu.»
Nox lachte wieder. Er war fast einen Kopf größer als die beiden Nixen, mit breiten Schultern und den Armen eines Ringers, die mit enormer Spannweite das Wasser pflügten. «Ich gebe zu, das macht sie attraktiv», gestand er und zwinkerte Aura zu, die sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr und ihm einen aufreizenden Blick zuwarf. «Sie sind so überaus einfach zu lenken.»
Aura warf Ondra einen Blick zu, der besagte: meine Rede. Laut sagte sie: «Gib doch nicht so an. Es weiß doch jeder, dass du dich in Wirklichkeit nur für eine interessierst.» Wieder schaute sie Ondra in die Augen und hob bedeutungsvoll eine Braue.
Die wandte den Kopf ab. Dann wies sie auf die Tote: «Warum hast du das gemacht?», fragte sie.
«Das also denkst du von mir?» Das Lächeln aus Nox’ Gesicht verschwand für einen Moment. Seine schwarzen Augen, in denen Iris und Pupille kaum zu unterscheiden waren, musterten sie so intensiv, dass Ondra unsicher wurde. Aber es dauerte nicht länger als einen Wellenschlag, dann lachte Nox wieder, breit und laut, wie es seine Art war. «Sie gehen nun einmal so leicht kaputt», sagte er und umschwamm die Frauengruppe mit großen, weit ausholenden Kraulzügen, die seine Arme gut zur Geltung brachten. «Warum, fragt sie, warum, warum.» Er vollführte eine Drehung, dass ihnen das Wasser ins Gesicht spritzte, und tauchte dicht vor Ondra wieder auf. «Warum töte ich einen Thunfisch, wenn ich hungrig bin? Warum messe ich meine Kräfte mit einem Marlin, wenn mir danach ist?» Er breitete die Arme aus. «Komm in meinen Geist und finde es heraus.»
Aura lachte girrend. «Warum nicht gleich mit einem Orka?», neckte sie ihn.
Ondra verzog das Gesicht und stieß Nox zurück. «Du glaubst wohl, mir
Weitere Kostenlose Bücher