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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena David
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letzte Ecke eines großen Farbfotos fest, das vor allem Wasser zeigte und im Hintergrund eine Küstenlinie, an der sich Palmen erahnen ließen und eine von Dünen umgebene Skyline. Das war der Ort, an dem schon bald eine Insel entstehen würde, von Menschenhand geschaffen, von seiner Hand, um genau zu sein. Und darauf würde das teuerste Hotel entstehen, das die Welt bisher gesehen hatte. Ein Traum aus Tausendundeiner Nacht.
    «Adrian, die Shepherd’s Pie ist fertig.» Die Stimme seiner Tante klang dünn herauf.
    Adrian machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er hatte keine Zeit. Er hatte keinen Hunger. Er hatte zu tun.
    Vier Stunden später schob er die Tastatur von sich. Puh! Es war gar nicht so einfach, Ideen zu haben, wenn man unbedingt musste. Vor allem nicht, wenn sie grandios sein sollten. Jede Skizze, die ihm in den letzten Stunden durch den Kopf gegangen war, kannte er schon von irgendwoher. Zumindest hatte er den Eindruck. Das waren doch alles nur Fingerübungen, Versuche, Gedächtnistraining, ein Plündern der Vorräte. Aber es war bislang ohne jede Inspiration. Es fehlte der Funke. Alles, was Adrian fühlte, war dieses glühende Wollen. Aber vom Wollen allein war noch nie etwas gekommen. «Wenn das Wort Kunst», pflegte sein Professor zu sagen, «von
wollen
käme, dann müsste es
Wulst
heißen.»
    Nun, in den letzten Stunden hatte er Wülste produziert. Adrian griff zur Wasserflasche, stellte fest, dass sie leer war, und schaltete um auf das Textprogramm. Er ging seine Notizen durch in der Hoffnung, dort auf eine Eingebung zu stoßen. Aber alles, was er geschrieben hatte, war im Grunde nur das Flehen um eine gute Idee. Draußen schrie eine Möwe.
    «Du hältst die Klappe», sagte Adrian, in Erinnerung an seine Kletterpartie, und rieb sich den Rücken, der juckend zu verschorfen begann. «Oder du beteiligst dich gefälligst mit einem produktiven Einfall.» Die Möwe ließ sich auf einem von Roses Rosengittern nieder und legte den Kopf schräg.
    «Oh nein», rief Adrian. «Nicht schon wieder.» Mit einem hörbaren Knall schloss er das Fenster.
    «Adrian, alles in Ordnung?», erklang es besorgt von unten.
    «Schon gut, Tante. Ich suche nur nach einer Idee.»
    «Was suchst du?»
    «War nur ein Scherz, Rose. Ein Scherz.» Adrian war an die Tür getreten, um sich besser verständlich zu machen. Als er sie mit einem Seufzer schloss, bemerkte er den Bücherschrank, der sich dahinter in eine Wandnische schmiegte. Er war nicht blau gestrichen wie die Stühle und das Nachtkästchen, sondern aus einem leuchtenden Holz, Kirsche, vermutete Adrian, als er darüberstrich. Die Verzierungen ließen auf Jugendstil schließen. Vor allem die Rosette, die den oberen Teil abschloss, war sehr schön. Einlegearbeiten schmückten den Rahmen, und die Seiten hatten diesen leichten, eleganten Schwung, der das Möbelstück ein wenig wie ein verzaubertes Märchenwesen aussehen ließ. Zwei Glastüren schützten die Regalbretter, die vollgestopft waren mit Krims und Krams, wie Adrian es bei sich nannte.
    Da war eine alte Puppe mit Porzellangesicht, Kristallschalen, ein Korallenstock, den jemand aus einem wärmeren Meer mitgebracht haben musste. Adrian nahm ihn heraus. Im Roten Meer gab es so etwas. Korallen, Rotfeuerfische, Haie. Schwarze Seesterne mit Armen, die sich wie Schlangen bewegten. Das hatte er in einem Film gesehen. Ob er sich davon anregen lassen sollte? Er drehte den fantastisch geformten Stock unschlüssig in den Händen, ehe er ihn vorsichtig wieder zurückstellte.
    All das musste noch entsorgt werden. Und wie er seine Tante kannte, würde sie bei jedem Stück überlegen, woher es kam, wohin es sollte und ob sie es behalten wollte oder nicht. Es würde Stunden dauern, sie ihren Erinnerungen zu entreißen und zu einer Entscheidung zu treiben. Wenn es nach ihm ginge, dachte Adrian, würde er alles in einen Container werfen. Na ja, die Koralle nicht, die war bestimmt einiges wert. Und ihm ging ihre Form nicht aus dem Kopf.
    Noch einmal nahm er sie in die Hand, dabei fiel das Buch um, das dahinter gelehnt hatte. Adrian griff danach und blies den Staub herunter. «Die kleine Meerjungfrau», las er laut. Er kannte das Buch, er kannte es gut. Seine Tante hatte ihm oft daraus vorgelesen, als er klein war. Vor allem, wenn er krank im Bett lag und nicht hinausdurfte. Er konnte sich noch genau daran erinnern. An das warme Bett mit der bestickten Tagesdecke, an das sanfte Licht der Nachttischlampe, die heute noch dort stand, an den

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