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Meerestochter

Meerestochter

Titel: Meerestochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena David
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Sturm damals kam völlig überraschend. Hat sich viel zu schnell entwickelt, hieß es; die Experten standen vor einem Rätsel. Ich hab später alle meteorologischen Berichte gelesen.»
    «Wo führt die Treppe hin?», fragte Ondra, die ihn auf andere Gedanken bringen wollte.
    Er wandte den Kopf, um zu sehen, wohin sie zeigte. «Tante Rose sagt, meine Eltern hatten sich da oben ein Zimmer eingerichtet. Das ist es, was ich mir eigentlich ansehen wollte. Kommst du mit?»
    «Mit dir gehe ich überallhin.»
    Eng aneinandergeschmiegt stiegen sie die schmale Treppe hoch. Der obere Stock besaß eine Galerie, von der nur eine einzige Tür abging. Adrian schaute Ondra an, die nickte.
    «Atme», sagte sie nur. Da holte er tief Luft, wie zu einem Tauchgang, und drückte auf die Klinke.

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24. Kapitel
    Die Tür war unverschlossen und führte in einen Raum, der ebenso lang war wie das Bootshaus. Über die volle Länge besaß er Fenster, durch die das Sonnenlicht hereinströmte. Staub wirbelte auf bei jeder ihrer Bewegungen. Er lag wie ein Vorhang über allem: dem Schlafsofa mit den zerwühlten Decken, dem Kinderbett am Fußende, den herumliegenden Spielsachen, dem geöffneten Koffer, in dem sich zerknüllte Kleider stapelten. Auf einem langen Tisch standen zwischen Stapeln von Papier, aufgeschlagenen Zeitschriften und Büchern und herumliegenden Buntstiften zwei benutzte Tassen. Wäre der Staub nicht gewesen und die Mäuseköttel, man hätte meinen können, die Menschen hätten dieses Zimmer nur ganz kurz verlassen, um nach nebenan zu gehen, und wären nicht schon seit fast fünfzehn Jahren fort.
    «Tja, offenbar waren meine Eltern nicht die ordentlichsten», sagte Adrian mit Blick auf den unausgepackten Koffer, um überhaupt irgendetwas zu sagen. Tatsächlich schnürte es ihm die Kehle zu. Das Malbuch, zu dem die Stifte gehörten, war voller Harry-Potter-Motive. Er erinnerte sich, für Rons Haare nie das richtige Rot gefunden zu haben. Der Bezug des Kinderbetts zeigte bunte Käfer; sein Vater hatte ihn von einer Reise mitgebracht, ein seltenes Stück. Auch daran erinnerte er sich mit einem Mal. Die Frühstückstassen waren groß, fast konnte man sie Schalen nennen. Darin hatte der Kaffee sich immer so schön mit der Milch gemischt, war heller und heller geworden, bis Adrian «stopp» gerufen hatte. Einen Schluck hatte er kosten dürfen, vor allem vom Milchschaum. Er erinnerte sich.
    Ondra wagte ein paar Schritte hinein in den Raum. Es war nicht leicht, man hatte das Gefühl, die ursprünglichen Bewohner seien noch da und man dringe in ihre Intimsphäre ein. Betont munter neigte sie den Kopf, um die Bilder auf den Buchdeckeln zu betrachten. Auf dem Weg zum Bettsofa stolperte sie und musste sich auf der Matratze abstützen. Sie entdeckte, dass Siebenschläfer ihr Nest in den Decken gebaut hatten. «Adrian», begann sie.
    «Ich möchte bitte gehen.» Er hatte es kaum herausgebracht, da drehte er sich auch schon auf dem Absatz herum und lief so schnell es ging die enge Stiege hinunter.
    Ondra holte ihn erst draußen auf der Wiese wieder ein.
    «Adrian», wiederholte sie, während sie zusehen musste, wie er ziellos ein paar Schritte hierhin, ein paar Schritte dorthin ging, die Hände in die Hüften gestemmt und schwer atmend wie ein Läufer nach dem Zielsprint.
    «Gleich», presste er heraus, «gleich. Gleich.» Er merkte gar nicht, dass er das Wort sinnlos wiederholte. Rose hat recht gehabt, dachte er. Das hier war ein Ort, den man besser mied, den man nicht berührte, nicht einmal in Gedanken. Er hätte nicht herkommen sollen.
    Gleichzeitig verfluchte er seine Tante dafür, dass sie nie die Kraft besessen hatte, herzukommen und klar Schiff zu machen, die Sachen aufzuräumen, zu sortieren, wegzuwerfen und sauber zu bündeln, was ihm gebührte, damit sie es ihm als sein Erbe hätte überreichen können, entschärft und handhabbar in einer Schachtel. Ohne dass er das hier erleben musste. Er hätte das nie sehen dürfen. Es war wie eine Zeitreise, und die bargen ja bekanntlich die Gefahr, durch irgendwelche paradoxen Verwicklungen das Universum in die Luft zu jagen. Sein persönliches Universum ganz gewiss. Sein Herz klopfte bereits, als wollte es zerspringen.
    Im selben Moment wusste Adrian auch, dass er wiederkommen würde. Um an den Tassen nach dem letzten Rest Kaffeearoma zu schnuppern, um die Malbilder zu betrachten, um die Kleider in die Hand zu nehmen und darauf zu warten, dass sie Bilder in ihm wachriefen.

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