Meerestochter
Schwester noch krank, ist das klar?»
«Glasklar, Frau Doktor.»
Sie balgten sich eine Weile spielerisch. Bis Adrian sich aufrichtete, zum Haus hinüberschaute und wieder in seinen Gedanken versank.
«Bereit für die nächste Etappe?», fragte Ondra.
Er sah sich um. «Der Strick dort, mit den Knoten, siehst du ihn? Den hat mein Vater mir aufgehängt, damit ich besser auf den Baum hinaufkomme. Ich weiß noch, an einem Tag habe ich versucht, mich an dem Ast dort mit den Knien einzuhaken und zu schaukeln.»
«Und?»
«Ich fiel runter. Der Holunder wuchs dort damals noch nicht.»
«Autsch.»
«Genau.» Er nahm ihre Hand und zog sie hoch. «Danke», sagte er.
Sie lächelte ihn an.
Er küsste sie. «Weißt du», sagte er, «es ist schon komisch. Ich kenne dich erst einen Tag, aber mit keinem Menschen möchte ich lieber hier sein. Es ist, als wäre ich bei dir zu Hause.»
Überwältigt schlang sie die Arme um ihn. Nach einer Weile spürte sie etwas Warmes über ihr Gesicht laufen. Erstaunt stellte sie fest, was sie nie für möglich gehalten hatte: Tränen waren warm. Und sie blieben nicht unbemerkt.
Adrian leckte ein paar davon auf. «Salzig», stellte er fest. «Aber doch süß. Komm. Die nächste Etappe.»
Die Tür des Bootshauses klemmte. Nach langem vergeblichen Rütteln und Drücken musste Adrian sie eintreten. Drinnen gab es kein Licht. Der Schalter klickte zwar, aber sonst passierte nichts. Zwischen losen Dachschindeln und Planken drang Sonnenlicht hindurch wie tastende Fühler, und durch die zerstörte Tür kam ein Keil, der sie zunächst blendete. Nach einer Weile sahen sie das Wrack, genauer: Es war ein Teil eines Bugs, auf die Seite gekippt und halb unter Wasser. Ein zersplitterter Mast ragte in den Raum und zwang sie, ihn vorsichtig zu umrunden.
«Die
Lady Blue,
das Schiff meines Onkels», sagte Adrian und half Ondra über die Hindernisse. «Papa fuhr gerne mit hinaus, und auch Mama kam dann manchmal mit, sich sonnen und den Wind genießen.» Er sah sie entschuldigend an. «Zumindest erzählt Tante Rose das. Ich war zu jung, um mich selber zu erinnern.»
Lady Blue.
Der Name versetzte Ondra etwas wie einen elektrischen Schlag. Wie merkwürdig, dass gerade von diesem Schiff etwas zwischen ihre Schätze gelangt war. Eben hatte sie die Glocke für immer verloren, jetzt gewann sie das ganze Boot zurück. Neugierig, mit wachen Sinnen und beweglich tastenden Fingern, untersuchte sie das Wrack, das ihr auf seine Weise altvertraut war.
«Die Bordwand muss einen schrecklichen Schlag abbekommen haben.» Ondra fuhr mit der Hand über die Ränder des zersplitterten Holzes. Die rechte Bordwand der
Lady Blue
, die nach oben zeigte, war fast vollständig zerschmettert. An Walfangbooten hatte sie ähnliche Schäden gesehen. «Wirklich seltsam.»
Sie standen da und schauten ins Wasser. Als sie eine plötzliche Bewegung wahrnahmen, zuckten beide zusammen. Adrian griff nach Ondras Hand.
«Schau, ein Conger», sagte sie und zeigte mit dem Finger auf den Aal, der vorsichtig seinen Kopf aus dem Inneren des Wracks schob. «Sie verstecken sich gerne in Felsspalten oder gesunkenen Schiffen. Ich wette, er ist mehr als zwei Meter lang.»
Adrian schüttelte sich. Schon Schlangen waren ihm nicht geheuer, als Fisch erschienen sie ihm allerdings noch viel abstoßender. Aale, brrrrr; er musste einfach daran denken, dass sie Aas fraßen.
Ondra ahnte, was er dachte. Sie drückte beruhigend seine Hand. «Deine Verwandten liegen sicher in ihrem Grab», sagte sie.
Adrian schüttelte den Kopf. «Onkel Jonas nicht», sagte er, «er wurde nie gefunden. Habe ich das noch nicht erzählt? Tante Rose pflegt ein leeres Grab.»
«Das tut mir leid, Adrian, aber …» Sie schaute ihn an. «Das Meer ist auch ein Grab, weißt du? Ein wunderbares. Es ist groß und zärtlich, nimmt alles auf und verwandelt es in Leben. Ich würde mir kein anderes wünschen.»
Erstaunt über ihre Ernsthaftigkeit, wandte Adrian den Kopf, um sie zu mustern.
Sie rieb ihr Gesicht an seiner Schulter. «Entschuldige», sagte sie. «Das ist nur etwas, worüber ich manchmal nachdenke.»
Er atmete in ihr Haar. «Jetzt habe ich dich doch gerade erst gefunden. So schnell gebe ich dich nicht an das Meer ab.»
«Sollst du auch nicht.» Sie umarmten und küssten einander lange. Als sie sich wieder voneinander lösten, mit ineinander verschränkten Fingern und glänzenden Augen, betrachtete Adrian erneut das Wrack. «Es hieß, sie ist auf die Felsen aufgelaufen. Der
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