Meerestochter
der noch ein wenig weiter …»
Morningstars Blick wanderte zu ihm, dann zum Bootshaus. «Oh», sagte er, «ich verstehe. Sie heißen nicht Waters, nehme ich an.»
«Ames», klärte Ondra ihn auf, froh, dass das Thema von dem Jungen abkam, den sie lebend zuletzt eng umschlungen mit Aura gesehen hatte. So etwas geschah. Es passierte nicht oft, dass eines der Liebesobjekte ihrer Nixengefährten starb, aber es kam vor. Eine Frage des Überschwangs, manchmal auch der Gleichgültigkeit, zugegeben. Einigen von ihnen fiel es schwer, achtsam mit Wesen umzugehen, die selbst so gedankenlos mit dem Leben im Meer verfuhren. Meist allerdings war gar kein böser Wille dabei. Wie leicht es gehen konnte, einen Menschen kaputt zu machen, hatte sie ja am eigenen Leib erfahren, als Adrian unter Wasser in ihren Armen gelegen hatte. Ondra wollte lieber nicht mehr dran denken. «Es waren seine Eltern.»
Adrian schaute Ondra böse an. «Ja, das waren meine Eltern», sagte er unwillig.
«Und der Onkel, ich erinnere mich daran. Ich meine: mein Beileid», fügte Morningstar wohlerzogen hinzu. «Ich verstehe.»
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25. Kapitel
«Ein trauriger Fall.» Morningstar schaute sich um. «Sie kommen oft hierher?», fragte er.
«Heute das erste Mal.»
«Ich verstehe», wiederholte Morningstar, wenn er sich auch nicht sicher war, ob er es wirklich ganz ermessen konnte. «Sie waren damals acht, nicht wahr?»
«Sechs.» Adrian nickte.
«Es …»
«… ist lange her», unterbrach Adrian den Pathologen, ehe der sich noch einmal entschuldigen konnte. «Was mich interessiert», kam er dann endlich auf sein Anliegen zu sprechen, «hat es damals irgendetwas gegeben? Ich meine, ich weiß auch nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Irgendwas, was Ihnen seltsam vorkam? So wie jetzt diese Knutschflecken zum Beispiel?»
Morningstar lächelte milde. Es war nicht so, dass er diese Frage nicht schon gehört hätte. Er begriff besser, als Adrian vielleicht vermutete, was diesen umtrieb. Der Tod war niemals wirklich zu begreifen. Das lag daran, dass er einem so sinnlos erschien. Weder moralisch noch ästhetisch noch sonst wie, dachte er, war das Sterben zu rechtfertigen. Allenfalls, wenn man religiös war, konnte man ihm einen Sinn abgewinnen. Und auch dann nur mit Mühe. Und Morningstar hatte den Verdacht, dass dieser Sinn der einzige Grund und Zweck der ganzen religiösen Bemühungen war. Da verzichtete er lieber, schnitt seine Leichen auf und hielt sich ungetröstet an die Fakten.
Aber er wusste, dass Fragen blieben. Manche Hinterbliebene stellten sie ihrem Seelsorger, manche ihrem Therapeuten, andere wandten sich an ihn: War da nicht doch irgendein Hinweis: auf ein Fremdverschulden, auf ein Motiv, auf etwas, was das Unbegreifliche begreiflicher machte, akzeptabler, als ein dummer Zufall es war. Wenn es etwas gab, was die Leute nicht hinnehmen konnten, dann dass jemand einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Sie brauchten mehr, um das Geschehen anzuerkennen. Morningstar hatte zu Hause einen dicken Ordner mit Briefen, in denen er nichts anderes gefragt wurde.
Der Pathologe schloss einen Moment die Augen. Es war sein freier Tag. Er war hier, um die Leichenhallen hinter sich zu lassen, ihren Anblick, ihren Geruch und die stummen Nöte ihrer Bewohner, die einen, der seinen Beruf so ernst nahm wie er, ohnehin nie in Ruhe ließen. Aber die Sonne schien, ihm war warm, und er fühlte sich wohl, er hatte gut gegessen und getrunken, man kraulte seinen Hund und nahm ihn freundlich auf. Und wenn die jungen Leute, jeder auf seine Art, auch ein wenig seltsam auf ihn wirkten, so waren sie doch nicht unsympathisch. Morningstar bemühte sich.
Es war keine schwierige Übung. Er vergaß keine der Leichen, die er einmal aufgeschnitten hatte. Es war eher ein Fluch. Ein Fluch, den er nur am Meer vergaß. Langsam schüttelte er den Kopf. «Sie waren übersät mit Wunden», sagte er langsam und überprüfte die Wirkung seiner Worte in Adrians Gesicht. «Schnitte, Prellungen, Abschürfungen, blaue Flecken.»
«Knutschflecken», sagte Adrian bitter.
Morningstar verneinte. «Anders», sagte er. «Als hätten sie einen schweren Kampf gekämpft.»
Ondra hob erschrocken den Kopf.
Morningstar nahm ihre Hand und tätschelte sie. «Das ist aber nichts Verwunderliches», sagte er und bemühte sich, die ganze Ruhe und Vernunft in seine Stimme zu legen, die er für solche Momente bereithielt. «Das geschieht durch die Felsen im Wasser, man darf die
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