Meerestochter
Um die Buchtitel zu studieren, die Position der Lesebändchen und die Anstreichungen, und so auf denselben Lektürepfaden zu wandeln wie seine Eltern, deren restliche Spuren sich im Wasser verloren hatten. Wer waren sie gewesen, diese jungen Erwachsenen, in deren Alter er jetzt bald kam? Worüber hatten sie geredet? Was hatte sie beschäftigt? Dort oben würde er die Antworten finden, wenn er je wieder den Mut fände, dort hinaufzugehen.
«Adrian?»
Er drehte sich um. Das war Christy. Sie tat ihm leid, sie sah so alleine aus, wie sie da zwischen den Bäumen stand. Er wollte zu ihr hinübergehen.
«He, hallo!»
Die laute, tiefe Männerstimme hallte in dem kleinen Talkessel. Ondra und Adrian schauten sich eine Weile um, bis sie bemerkten, dass sie vom Wasser kam. Der Mann saß in seinem Segelboot und winkte ihnen zu. Das Segel war gerefft, er handhabte die Pinne mit Vorsicht, um nicht an einem der vor sich hin faulenden Pfeiler hängen zu bleiben, die vom ehemaligen Bootssteg übrig geblieben waren, und wies auf den freien Streifen Wasser zwischen ihnen. «Könnten Sie wohl meinem Hund an Land helfen? Die blöde Töle ist einfach von Bord gesprungen.»
Ondra hatte sich schon ans Ufer gekniet und begonnen, das Tier zu einer Stelle zu locken, an der es Chancen hatte, aufs Trockene zu gelangen. Hechelnd, mit angstvoll verdrehten Augen, paddelte der Labrador auf sie zu. Sie packte sein Halsband und zog. Jaulend und kratzend schaffte der Hund den Aufstieg. Das Boot seines Herrn stieß wenig später an die Felsen. Ein Mann um die fünfzig sprang an Land, die Leine in der Hand, und begann auf seinen vierbeinigen Begleiter einzuschimpfen.
«Entschuldigen Sie», sagte er, als er sich nach einer Weile wieder aufrichtete. «Das hat er noch nie gemacht. Platz, Harvey!»
Adrian bemühte sich um ein Lächeln. «Er ist vermutlich auch noch nie meiner Freundin begegnet», meinte er und wies auf den eifrig um Ondra herumschnuppernden Harvey. «Sie hat diese Wirkung auf Tiere.»
«Bemerkenswert. Morningstar», stellte der Mann sich vor und deutete Ondra gegenüber zu deren Erstaunen einen Handkuss an. «Ich hoffe, Sie entschuldigen das Eindringen auf Ihr Grundstück. Ich kreuze manchmal hier in der Gegend. Gut, wenn man auf Dornhaie aus ist. Oder Conger.» Er hielt kurz inne. «Es ist doch keine Genehmigung nötig, um hier so dicht vor der Küste zu fischen?»
«Nein, nein», beruhigte Adrian ihn. «Keine Sorge.»
Der Mann lächelte. «Das ist der Beruf», sagte er. «Man hat nicht ungestraft sein Leben lang mit der Polizei zu tun. Oh, keine Sorge», fügte er hinzu, als er die Gesichter der beiden sah. «Ich bin kein Bulle. Ich arbeite nur für sie.» Er griff in seine Brusttasche und holte ein Kärtchen heraus, das er Adrian überreichte.
«Sie sind Gerichtsmediziner!»
«Heute nur Angler.» Er hob abwehrend die Hände und grinste.
«Ja, das kann ich mir denken», murmelte Adrian.
Ondra, die von dem Gespräch wenig verstand, hatte den Picknickkorb geholt und nach einem Sandwich gewühlt, das sie jetzt dem Hund anbot. «Er schätzt es nicht, dass sie ihm von den kleinen Haien immer nur die Haut anbieten», sagte sie tadelnd zu Morningstar. «Er will auch was von den Filets. Wenn Sie schon Tiere töten müssen.»
Morningstar schaute verdutzt erst sie, dann den kauenden Hund an. Dann lachte er. «Na ja, es ist wohl kein Kunststück, darauf zu kommen», meinte er. «Schätze, Harvey denkt das so laut, dass man es sehen kann. Wenn es um Essen geht …»
«Das stimmt», sagte Ondra so ernst, dass er sie wieder lange betrachtete, ehe er ihre Bemerkung als Scherz abtat.
«Möchten Sie auch ein Sandwich?», fragte die Seejungfrau.
«Oh Gott, haben Sie mich das auch denken hören?» Der Pathologe ließ sich nicht zweimal bitten. «Um ehrlich zu sein, schmeiße ich das meiste wieder rein, wenn ich es erst einmal habe. In meinem Job ist man vor allem froh um Unmengen frischer Luft und freien Himmel. Mmh, Thunfisch? Ich hätte wetten mögen, dass Sie Vegetarierin sind.»
Ondra schaute Adrian an, der sich zögernd bei ihnen niederließ. Er kannte diesen Blick jetzt schon an ihr. «Er dachte, dass du kein Fleisch isst, Christy.»
«Oh, ich esse gerne Fisch», erklärte sie. «Ich kann auch verstehen, dass Sie ihn gerne jagen. Es gibt nichts Aufregenderes, als sich mit einem großen Fisch zu messen. Man darf es nur nicht übertreiben», erklärte Ondra kauend und zu Adrians wachsendem Erstaunen.
«Mr. Morningstar», begann
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