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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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ungläubig an. »Was habt ihr denn da?«, flüstert sie entsetzt.
    »Das sind nur Computerspiele«, beruhige ich sie.
    »Es sieht aber wie Pornos aus!«
    »Nein.« Torsten lacht betreten.
    »Das will ich hier lieber nicht mehr sehen«, sagt Oma mit ihrer Lehrerinnenstimme.
    Torsten, der mittlerweile eine ganz normale Farbe angenommen hatte, wird ziemlich rosig. Er packt seine Hefte zusammen und drückt sie mit den Noten an sich. »Ich geh dann«, murmelt er. »Das bisschen Regen … äh, auf Wiedersehn.«
    Oma nickt ihm grüblerisch zu, als käme sie eben langsam darauf, warum er so schlecht Klavier spielt.
    »Warte.« Ich folge Torsten in den Flur. Die Sache mit Oma ist mir peinlich, aber sie hat mir das Stichwort geliefert. »Erwachsene haben keine Ahnung«, flüstere ich verschwörerisch. »Können wir nicht bei dir daheim...«
    Torsten würgt seine Füße in die Schuhe, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. »Du kannst ja kommen«, murmelt er.
    »Jetzt?«
    Er hat schon die Türklinke in der Hand. »Heute ist es schlecht. Meine Mutter hat ihren freien Nachmittag. Wenn sie da ist, darf ich am Computer nur was für die Schule tun.«
    »Ach …!«, sage ich erfreut. Das ist mir ja viel lieber als seine komischen Spiele!
    Torsten hat keine Antenne für meine Wünsche. »Aber sonst ist sie meistens weg«, sagt er knapp. »Tschüs dann.«
    Die Tür schließt sich hinter ihm. Ich gucke hin, mit demselben Gesichtsausdruck, den Oma vorhin hatte. Nur grüble ich darüber nach, ob das jetzt eine Einladung war oder nicht.

    Das Märchen von der kleinen Seejungfrau ist wunderwunderschön!
    Ich lese es mit Oma zusammen und wir weinen beide ein bisschen. Darüber vergesse ich Torsten restlos. Draußen prasselt der Regen nieder und wir haben es sehr gemütlich. Oma hat mich übrigens gebeten, ihr die Geschichte vorzulesen, ihre Augen seien etwas angegriffen vom vielen Unterrichten. Das ist nichts Neues. Trotzdem glaube ich, dass sie mir was vorspielt. Sie will mich laut lesen hören, um sicherzugehen, dass sich die angeblichen Pornobilder nicht in meinem Kopf einnisten. Na, sowieso nicht! Das Märchen fesselt mich von der ersten Zeile an. Ich verstehe, warum Ulrich den Stoff vertont hat.
    Die kleine Seejungfrau lebt mit ihrem Vater, dem Meerkönig, mit ihrer Großmutter und ihren fünf schönen Schwestern tief unten im Meer, in einem Schloss. Mit fünfzehn darf sie zum ersten Mal aus dem Wasser auftauchen. Dabei rettet sie gleich den schönen Prinzen, der sonst ertrunken wäre. Aber er weiß nichts davon, er ist ohnmächtig. Sie verliebt sich natürlich in ihn und kann ihn nicht mehr vergessen. (Oh, wie wunderbar!)
    Das Problem der kleinen Seejungfrau ist, dass sie einen schuppigen Fischschwanz hat anstelle von Beinen. Ihre Schönheit, ihre herrliche Stimme, das alles nützt ihr nichts, solange sie nicht auf Menschenbeinen zum Prinzen gehen kann. Die Einzige, die ihr helfen kann, ist die hässliche alte Meerhexe. Aber die will für ihren ekligen Zaubertrank als Gegenleistung die Stimme der kleinen Seejungfrau haben, denn niemand sonst kann so schön singen.
    Der Tausch wird gemacht. Jetzt geht die kleine Seejungfrau zu ihrem Prinzen, aber sprechen kann sie nicht mehr und singen auch nicht. Der Prinz liebt sie trotzdem, nur heiraten will er eine andere. (Ich kann es nicht glauben! Ich hasse ihn!)
    Tatsächlich findet er seine Wunschbraut. Die kleine Seejungfrau weiß, dass am Morgen nach der Hochzeit ihr Herz brechen wird, sie muss zu Schaum auf dem Wasser vergehen - das hat ihr die Hexe bereits gesagt.
    Da tauchen in letzter Minute ihre Schwestern aus dem Meer auf. Sie haben ihre schönen langen Haare der Hexe überlassen und bringen dafür einen Dolch mit. Den soll die kleine Seejungfrau dem Prinzen ins Herz stoßen, dann kann sie am Leben bleiben und mit einem neuen Fischschwanz zu ihrer Familie zurückkehren. (Sie soll es tun, er hat es verdient! Sie soll nicht warten, bis es zu spät ist, bis die Sonne aufgeht, o mein Gott!)
    Aber die kleine Seejungfrau küsst den Prinzen nur, dann stürzt sie sich ins Meer und wird beim ersten Sonnenlicht zu Schaum. (Dass sie sich danach zu den Töchtern der Luft erhebt, ist kein Trost für mich. Ich bin sehr unglücklich.)

    Am Abend bevor meine Mutter von der Tournee zurückkommen soll (Freitagabend), singe ich lauthals in meinem Zimmer. Plötzlich klopft es. Die Tür geht auf, es ist mein Vater. Schweißtriefend, im T-Shirt und in kurzer Sporthose. Bächlein rinnen über sein rotes Gesicht.

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