Meerhexe
Er gibt meinem Sessel einen nervösen Schubs und verkündet, dass er jetzt zuerst duschen und danach mit mir musizieren will - zu essen gibt es heute nichts mehr.
Schöne Aussichten! Ich fahre ein doppeltes Wurstbrot ein, während die Dusche rauscht.
Mein Vater macht seine Drohung tatsächlich wahr. Keine Pizza, nicht mal Spaghetti Napoli oder eine Scheibe Brot, gar nichts. Damit er durchhält, beschäftigt er sich angelegentlich mit den Songs, die Ulrich komponiert hat. Er guckt sich die Noten genau an. Zwei von den Liedern singt die kleine Seejungfrau, es sind die schönsten und ich kann sie auch am besten. Zuerst bejubelt die kleine Seejungfrau die wunderbare Welt über dem Wasser. Danach kommt ein Liebeslied für den Prinzen, den sie soeben gerettet hat. Ein herrlicher Song! Ein paar Lieder singen ihre Schwestern gemeinsam, eines der Meerkönig, eines die Großmutter und eines die hässliche alte Meerhexe. Das Lied des Prinzen drückt die Sehnsucht nach einer Braut aus und ich hasse es. Gut, dass ich für diese Rolle als Mädchen gar nicht infrage komme!
»Gute Lieder«, sagt mein Vater. »Modern, nicht kitschig. Dein Lehrer hat keinen schlechten Geschmack.« Er setzt sich an den Flügel. »Los, Madeleine.« Er zeigt auf das erste Lied der kleinen Seejungfrau, das ich längst auswendig kann. »Wie wär’s damit für den Anfang?«
Mein Vater spielt eine Begleitstimme, die gar nicht auf dem Blatt steht. Als Lehrer am Konservatorium kann er das eben. Ich singe vom Himmel, der sich über dem Meer wölbt und den ich heute zum ersten Mal sehe, von ziehenden Wolken, von Segelschiffen, von Vögeln, die sich wie Pfeile ins Wasser stürzen, von funkelnden Sonnenstrahlen und vom silbernen Mondlicht. Die Welt ist sooo schön!
Mein Vater lächelt mir zu. Ich sehe, er denkt gerade überhaupt nicht an seinen Kummer. Irgendwie sind wir beide richtig glücklich. Und erst beim Liebeslied! Ich singe es mit dem ganzen Gefühl, das in mir drin ist, obwohl Leute wie Oma mich für zu jung halten. Ich bin voller Liebe für den Prinzen und weiß doch schon, dass er mich sterben lassen wird. Fast könnte ich wieder weinen.
Mein Vater fängt an mitzusummen. Seine rechte Hand spielt verliebte Ranken um die Melodie herum, und als wir mit der letzten Strophe fertig sind, guckt er lange sinnend aufs Blatt.
»Diese Texte...«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Madeleine, du hast da, glaube ich, einen genialen Lehrer. Wenn die Texte auch noch von ihm sind … Wirklich schön.«
Ich nicke glücklich. Natürlich ist Ulrich genial, weiß ich doch längst.
Mein Vater will jetzt die anderen Songs hören. Beim Lied der Meerhexe donnert unter seiner linken Hand das ganze Meeresgrollen aus dem Flügel, samt Wasserschlangen und Polypen, die sich vor dem Knochenhaus der Meerhexe winden. Ich kann gar nicht anders als kreischen, sonst hört man mich nicht mehr.
»Gut!«, ruft mein Vater und bearbeitet die Tasten. Wir haben echt Spaß damit.
Ganz zuletzt wünscht er sich noch einmal das Liebeslied der kleinen Seejungfrau. Wir singen es gemeinsam, und ich bin mir nicht sicher, ob es in den Augen meines Vaters dabei nicht feucht glitzert.
Danach sagen wir uns ein bisschen verlegen Gute Nacht und gehen schlafen.
Ob Singen durstig macht? Jedenfalls muss ich nach einer Weile noch einmal aufstehen, um etwas zu trinken. Die Tür meines Vaters ist angelehnt und er hat kein Licht mehr brennen. Leise tappe ich zur Küche. Der Mond und die Straßenlampe zusammen beleuchten schwach mein Glas, das noch auf dem Tisch steht. Ich leere es in einem Zug. Dann schleiche ich ebenso leise zurück. Am Zimmer meiner Mutter stockt mir plötzlich der Fuß. Höre ich was? Für einen Moment ist mir, als wäre meine Mutter da drinnen. Aber das kann ja nicht sein, sie trifft erst morgen ein! Ich schüttle den Kopf über mich selber, öffne aber doch vorsichtig die Tür, um mich zu vergewissern, dass ich mir das Geräusch wirklich nur eingebildet habe.
Das Mondlicht fällt aufs Bett. Mein Herz macht einen Satz: Das Bett ist nicht leer. Mein Vater liegt drin, und zwar auf dem Bauch, er umarmt das Kopfkissen meiner Mutter und schluchzt hinein.
Ich stehe wie angewurzelt da, halte die Luft an und finde die Szene viel, viel intimer, als wenn ich mitten in einen Liebesakt meiner Eltern reingeplatzt wäre. Meine Hände zittern, als ich die Tür geräuschlos zuziehe.
Ich kann lange nicht einschlafen. In dieser Nacht träume ich von Meeresschlangen, die sich winden, und vom
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