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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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hätte jemand einen Pausenknopf losgelassen. Sie dreht sich zu mir um und will, dass ich ihr erzähle, was in den drei Wochen alles los war. Dazu schaut sie mich so verdammt aufmunternd an, dass ich schreien könnte. Ich sehe, wie viel Mühe sie sich gibt. Aber ein ehrliches Gesicht wäre mir lieber. Ein solches, mit dem sie in der Gepäckhalle in die Ferne geblickt hat.
    Ich berichte vom Musical. Mein Vater unterstützt mich, indem er in den höchsten Tönen von Ulrich Falkenhauser schwärmt. Meine Mutter ist sehr interessiert, sie will die Songs unbedingt hören, vielleicht gleich morgen, wenn sie sich von der Reise etwas erholt hat. Und von den Kopfschmerzen, die auf einmal eingesetzt haben.
    Zu Hause schiebt mein Vater das Gratin in den Ofen. Er entkorkt den Wein und schickt mich nach diesem und jenem. Er, der doch sonst die Ruhe selbst ist, saust herum, als hätte er ein Restaurant und fünfhundert wartende Gäste. Er fragt meine Mutter, ob sie die Reisetaschen im Zimmer haben will, ob er ihr ein Aspirin bringen soll, ob er nicht doch lieber den Tisch im Garten decken … es sei so ein lauer Abend … und fast keine Stechmücken... Er reißt die Fenster auf und macht sie wieder zu, er zündet Kerzen an und versucht, das Gratin dadurch zu beschleunigen, dass er zwanzigmal in den Ofen guckt.
    Ich höre meine Mutter aus ihrem Zimmer antworten, leichthin und etwas abwesend, als wäre sie voll damit beschäftigt, ihre Sachen einzuräumen. Aber zufällig sehe ich durch den Türspalt in ihren Ankleidespiegel. Sie sitzt auf dem Bett, hat das Kopfkissen im Arm, schmiegt ihre Wange hinein und wiegt es hin und her. Genau das Kissen, in das mein Vater letzte Nacht geschluchzt hat, oh, verdammt! Ihre Augen sind zu. Ihr Gesicht hat etwas irrsinnig Verklärtes. Ihre Gedanken sind tausend Kilometer entfernt, mindestens.
    Ich knirsche mit den Zähnen und balle die Fäuste. Es kostet mich eine unmenschliche Anstrengung, mit einer halbwegs normalen Miene zu meinem Vater zurückzukehren. Mein Hals ist wie zugeschnürt, und das Gratin, das ich zehn Minuten später essen muss, schmeckt wie eine Mischung aus Sägemehl und Kieselsteinen. Die Kerzen und der funkelnde Wein sorgen dabei für eine fast feierliche Stimmung, die niemand durch lautes Reden zu stören wagt. Nur Blicke, ein Lächeln hin und her, ein hingeworfener Satz, ein kleines Lachen. Mein Vater macht es uns beiden leicht, unbefangen zu tun, denn er ist ahnungslos, er hat meine Mutter weder auf dem Flughafen noch in ihrem Zimmer beobachtet. Was ihn drei Wochen lang gequält hat, muss er verdrängt oder ganz vergessen haben.
    Nach dem Essen schicken mich meine Eltern ins Bett und nehmen ihren Wein mit hinaus in den Garten. Ich kann beim besten Willen nicht einschlafen, es ist viel zu schwül. Ich liege in der Dunkelheit und höre die beiden draußen murmeln - gelegentlich, meistens schweigen sie. Zweimal stoßen ihre Gläser mit einem feinen Klingen aneinander. Dieses Klingen ist es, das mich beruhigt. Es hört sich so normal und friedlich an und auch eine Spur verheißungsvoll. Es ist ein schönes Geräusch. Ob ich mir vielleicht doch alles eingebildet habe?
    Fast könnte ich nun einschlafen. Aber ich will wach bleiben. Ich muss wissen, ob sie in einem oder in getrennten Zimmern schlafen. Das brauche ich noch. Erst danach kann ich entscheiden, ob ich Gespenster gesehen habe oder nicht.
    Ich schaffe es tatsächlich, im richtigen Moment aufs Klo zu gehen (siebter Versuch). So kriege ich mit, wie meine Mutter im Nachthemd die Diele überquert und im Zimmer meines Vaters verschwindet.
    Uff! Eine herrliche Nacht! Gar nicht schwül, nur kuschelig warm. Man muss sich nicht mal zudecken und das Einschlafen ist ja überhaupt kein Problem!
    Am Morgen wache ich früher auf als sonst. Hab ich jemanden rumoren hören? Gibt es vielleicht Frühstück im Garten? Ich bin sofort munter.
    Bei meinem Vater steht die Tür offen, sein Zimmer ist leer. In der Küche ist keiner und im Garten auch nicht. In der Terrassenecke fehlen die Laufklamotten und die Turnschuhe meines Vaters. Er ist weg, joggen! Ich kann es nicht fassen. Wieso joggt er ausgerechnet jetzt und heute? War das etwa keine vorübergehende Verzweiflungstat von ihm, vorbei und vergessen seit der Rückkehr meiner Mutter?
    In der Küche finde ich schließlich neben den schmutzigen Tellern, die noch vom Abend dastehen, den Zettel mit seiner Nachricht. Ich soll Mama schlafen lassen, sie sei geschafft von der Reise.
    Ich bin wie vor den

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