Meerhexe
sie auf keinen Fall geeignet.
Schnell steckte ich meine Noten ein, damit ich sie mit keiner anderen teilen musste. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Die kleine Seejungfrau, das war bestimmt eine ganz wunderbare Rolle.
Und seitdem übe ich. Für die Computerspiele mit meinem Vater, diesen Memory-Kram, bleibt mir keine Zeit mehr. Sie nützen mir sowieso nichts bei Torsten.
Überhaupt glaube ich jetzt wieder, dass ich hauptsächlich Ulrich liebe. Singen ist auch viel leichter als am Computer durchblicken.
Mit Ken, in den ich ja auch mal verknallt war, habe ich vielleicht was gemeinsam. Eine Stimme, mit der man gewisse Leute verzaubern kann - Musiklehrer zum Beispiel. Oder?
Von Frau Nacktarsch und der kleinen Seejungfrau und vom Kummer meines Vaters
Oma hat das Märchen von der kleinen Seejungfrau in ihrem Bücherregal, ich soll es mir holen. Das trifft sich gut, denn ich will ja sowieso zu Torstens Klavierstunde hin.
Es regnet und ich kann mich diesmal nicht bei ihr auf die Stufen setzen. Also läute ich. Ich bin zu früh dran und darf mir aussuchen, ob ich in der Küche warten oder Torsten zuhören will. Natürlich entscheide ich mich fürs Zuhören. Es gibt mir die Gelegenheit, Torsten ausgiebig zu betrachten, wenn auch wieder mal nur von hinten.
Er überprüft mit einem flüchtigen Blick, was ich für Schuhe anhabe. Dann spielt er weiter. Sein Nacken, wo sich die Haare kräuseln, ist dunkelrot. Das war er vorher wahrscheinlich noch nicht. Und seine Finger - zittern die vielleicht?
Ich habe es gut, ich kann mich auf Omas Sofa zurücklehnen, ohne ein heißes Gesicht zu kriegen. Die Puppe Vera mit dem fetten Balg trägt heute ein anderes Kleid und darunter ein bauschiges Spitzenhöschen, das bis über ihre Knie reicht. Ich bedauere, dass solche Hosen aus der Mode sind. Denn darin würde jede dick aussehen. Überhaupt war früher die Kleidung netter zu den Dicken. Man musste sich zum Beispiel nicht im Badeanzug sehen lassen, wenn man nicht wollte. Behauptet Oma.
Ich setze Vera auf ihr Kissen zurück und wende mich wieder Torsten zu. Er spielt wirklich nur mäßig. Wenn man die Hände meiner Mutter schon mal beobachtet hat.
»Macht dich Madeleine nervös?«, fragt Oma mit äußerst großem Taktgefühl. »Aber warum denn?«
Torsten zieht das Genick ein und seine Finger werden noch steifer. Sie treffen keinen Ton mehr.
Oma hat endlich die Güte, ihn zu erlösen. »Lassen wir’s für heute, Torsten.«
Torsten rafft seine Sachen zusammen. Dann schaut er sich über die Schulter und mit gesenkten Augen nach mir um und streckt ein paar bunte Zeitschriften in meine Richtung.
»Hey!«, sage ich überschwänglich. »Dass du daran gedacht hast!« Ich lehne mich an den Tisch, so sehe ich vorteilhafter aus als auf dem Sofa. Heute habe ich wieder das Dunkelblaue an, das mit der Insel. Obwohl ich nicht abgenommen habe, bin ich in einer brauchbaren Stimmung. Die hält schon an, seit Ulrich mich so intensiv gemustert hat. Ich freue mich wahnsinnig auf das Musical. Deshalb habe ich kein Problem mehr mit Torsten. Ich kann die Hand nach seinen Heften ausstrecken, ohne dass meine Finger zittern. »Damit kenne ich mich aber bestimmt nicht aus. Erklärst du mir ein paar von den Spielen?«
»Steht alles drin«, murmelt er.
»Aber du wolltest mir doch was empfehlen!«
Oma beobachtet von der offenen Terrassentür aus, wie es draußen schüttet. »Lasst euch Zeit«, sagt sie, »jetzt könnt ihr sowieso nicht hinaus.«
Ich lächle Torsten einladend an und knie mich vor dem Couchtisch nieder, um in den Heften zu blättern.
Er beugt sich immerhin runter und zeigt auf dies und das, und je mehr Spiele es werden, desto mehr taut er auf. Beim zweiten Heft kniet er schon neben mir. Auf dem Cover des dritten produziert sich eine virtuelle Lady, die gigantische nackte Kurven hat, vor allem hinten. Innen im Heft ist sie noch einmal, aber kleiner.
Torsten, der wahrscheinlich gar nicht bemerkt hat, wie ich beim Anblick der Lady zurückgezuckt bin, räuspert sich. »Äh, das ist im Augenblick das Beste, äh, für mich. Du bist in dem Spiel voll der Böse und du hast lauter gemeine Helfer, die da.« Er deutet flüchtig auf eine Reihe von finsteren Gestalten, darunter auch Frau Nacktarsch, die, wie ich sehe, Eiserne Jungfrau heißt.
»Du kannst die Guten foltern oder aushungern, und wenn du sie abgemurkst hast, werden sie Skelette oder Vampire, hier.«
Da schiebt sich jemand zwischen uns - Oma. Sie starrt das Heft
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