Meerhexe
gewusst. Oder gefällt es dir vielleicht nicht?«
»Doch«, bestätige ich. Ich mustere die Flügeltüren zum Garten. »Besonders die durchsichtigen Vorhänge.« Sie sind zartgelb und so leicht, dass sie sich beim geringsten Luftzug blähen. Vorher hatten wir da einen schweren dunkelblauen Bühnenvorhang.
»Ja, nicht wahr«, freut sich meine Mutter. »Ein Traum, diese transparenten Schals! Wie sie das Sonnenlicht einfangen...«
Ich reiße sie ja ungern aus ihrer Glückseligkeit, aber ich kann die Frage nicht mehr zurückhalten: »Glaubst du, dass es dem Papa auch gefällt?«
Die Farbe weicht meiner Mutter schneller aus dem Gesicht, als ich meinen vorlauten Mund zukriege. Ihre Lippen fangen zu beben an. »Ich hoffe es«, flüstert sie mühsam und dreht das Gesicht von mir weg.
»Mama...«, sage ich hilflos. Und dann: »Du, es ist alles sehr schön, wirklich. Es wird ihm gefallen, bestimmt.« Ich komme mir so unbeholfen vor. Genauso plump, wie ich aussehe. Was kann ich nur tun, damit sie mir glaubt? Jetzt steht sie da und heult in ihre Hände.
»Mama...« Ich könnte mitheulen.
Sie schnieft und sucht nach einem Taschentuch. »Schon gut, Madeleine«, sagt sie tonlos.
Nichts ist gut, gar nichts. Mein Vater treibt sich irgendwo in den Bergen rum und kann abgestürzt sein, ohne dass wir was davon wüssten. Telefonhäuschen gibt’s da oben keine und er würde sowieso nicht anrufen. Wir können nur warten, dass die paar Tage, von denen er gesprochen hat, vorübergehen. So wie ich zu Britta geflüchtet bin, hat sich meine Mutter in diese anstrengende Arbeit gestürzt, damit sie es aushalten kann, das wird mir jetzt klar. Und außerdem ist das, was mein Vater da abzieht, vielleicht auch so was wie eine Flucht, oder? Irrer Gedanke von mir, nicht zu beweisen. Hauen wir alle voreinander ab - und warum?
Verwirrt schüttle ich den Kopf und bin froh, dass mir was Praktisches und Vernünftiges einfällt. »Ich helf dir ab morgen«, biete ich meiner Mutter an. »Britta fährt sowieso in die Ferien.«
Zusammen machen wir uns am nächsten Tag über mein Zimmer her. Abends sitzt meine Mutter am Sekretär im Wohnzimmer und schreibt Briefe. Ich habe sie nie ein Kuvert beschriften sehen, und nach fünf Tagen weiß ich auch, warum: Sie sammelt die Briefe und legt sie alle auf einen Stapel. Will sie den vielleicht in einem Paket verschicken? Nach England, nach Amerika?
Da meine Mutter von selbst nichts sagt, frage ich auch nicht. Aber ich warte den Moment ab, in dem sie mal kurz hinausgeht. Ich weiß, das tut man nicht. Wenn jemand das bei mir machen würde, dem würde ich die Augen auskratzen. Ich will die Briefe nicht lesen, das nicht, ich will nur wissen, wer sie kriegen soll.
Da meine Mutter in den Keller gegangen ist, reicht die Zeit für einen kurzen Check. Zögernd und voll böser Ahnungen blättere ich durch die zusammengefalteten Seiten.
»Robert, du...«
Mir fährt ein heißer Stich mittendurch. Hastig überzeuge ich mich genauer. Die Briefe sind alle für meinen Vater!
Als ich die Schritte meiner Mutter höre, werfe ich mich wieder auf die Couch, stütze die heißen Backen in die Hände und starre in mein Buch, ohne eine Zeile zu sehen.
Die Briefe sind alle für meinen Vater! Das kann doch nur etwas Gutes bedeuten, oder? Vielleicht schreibt auch er auf seiner einsamen Berghütte Briefe an sie - oder denkt er eher über die Scheidung nach? Und ist das, was er da abzieht, eigentlich auch so was wie eine Flucht?
Wie eine, die das Familiendrama satt hat, verhalte ich mich wirklich nicht. Ich warte mit zerreißender Sehnsucht und voller Angst auf ein Lebenszeichen von meinem Vater.
Das kommt dann ganz undramatisch mitten im Frühstück in Form eines Anrufs. Wir stürzen wie immer beide zum Telefon, meine Mutter und ich, aber ich bin schneller.
»Madeleine? Ich bin auf der Heimfahrt«, sagt mein Vater.
»Wann kommst du?«, keuche ich.
Mama vergisst, dass sie ihr Frühstücksbrötchen mitgenommen hat. Das ploppt auf den Boden, mit dem Schwerpunkt nach unten, der Schwerpunkt ist die Marmeladenseite. Im selben Moment sagt mein Vater: »In etwa drei Stunden.«
Völlig hysterisch kreische ich ins Telefon, dass Mama soeben vor irrer Freude ihre Marmeladensemmel runtergeschmissen hat und dass wir beide ganz aus dem Häuschen sind und dass er bloß vorsichtig fahren soll …
Meine Mutter will mir den Hörer wegnehmen. Aber da hat Papa schon »tschüs« gesagt und eingehängt.
Wir starren uns kurz an, dann werden wir
Weitere Kostenlose Bücher