Meerhexe
fieberhaft tätig.
Als mein Vater eintrifft, sehe ich, dass ich meine hochgeschraubten Erwartungen hübsch zurückfahren darf.
Kein Kuss für Mama. Sie sind höflich zueinander wie zwei Fremde, die Angst haben, sich etwas zu vergeben, wenn sie zu freundlich sind. Mein Vater registriert die Veränderungen im Haus und äußert sich sparsam darüber, ohne Begeisterung. Meine Mutter, die alles mit solchem Feuereifer umgekrempelt hat, passt sich an und tut, als wäre das ruck, zuck von selbst passiert und nicht der Rede wert.
»Du hast was versäumt, Madeleine«, sagt mein Vater zu mir, wobei sein höfliches Lächeln endlich Wärme gewinnt. »Du hättest mitkommen sollen...«
»Erzähl doch, Robert«, fordert ihn Mama auf, obwohl sie nicht angesprochen wurde - was ihr unheimlich wehtun muss. »Wir können übrigens essen, ich dachte, du bist vielleicht ausgehungert«, wirft sie noch ein. »Du hast abgenommen...« Was hätte mein Vater vor Wochen nicht alles für diesen Satz von ihr gegeben! Jetzt runzelt er nur unwillig die Stirn und zuckt mit den Schultern.
Beim Erzählen taut er dann aber allmählich auf. Zuerst redet er nur für mich. Was wahrscheinlich ganz natürlich ist, denn ich bin es ja, die er eingeladen hatte mitzukommen. Ich bin so verkrampft, dass ich fast nicht zuhören kann. Erst als er ab und zu auch Mama anschaut, wird es besser. Er zeigt uns auf der Karte, wo genau er war, und bedauert, dass die Karte natürlich gar nichts von der Schönheit der Berge wiedergibt.
»Allerdings«, murmelt er, »empfindet man das alles vielleicht nur dann so intensiv, wenn man allein ist.« Seine Augen sind auf einen Punkt auf der Karte gerichtet, uns sieht er nicht an.
Meine Mutter schluckt und quält sich eine Rede ab. Sie würde jetzt furchtbar gern mit uns in Urlaub fahren, sagt sie. Sie habe sich bereits darum gekümmert, und wenn es uns recht wäre … also, sie würde gerne nach Tschechien fahren, mit einer Reisegruppe, das wäre mal was anderes. Die Goldene Stadt Prag, die Karlsburg …
Mit mir hat sie darüber überhaupt nicht gesprochen. Daran merke ich, dass sie total auf meinen Vater fixiert ist. Und dass die Reise selbst wahrscheinlich gar nicht das Wichtigste ist.
Mein Vater schaut skeptisch drein. »Eine Busreise?«
»Ja.« Meine Mutter nickt plötzlich ganz eifrig. »Es sind noch Plätze frei, weil eine andere Familie von der Reise zurückgetreten ist. Normalerweise würden wir um diese Zeit gar nichts mehr kriegen, aber wir müssen uns sofort entscheiden! Eine Busreise wäre doch mal was ganz Neues! Mit einem Reiseleiter, der uns alles zeigt.«
Ich persönlich weiß nicht, was ich von einem solchen Urlaub halten soll. Klingt nicht hundertprozentig nach meinem Geschmack. Ich beobachte erst mal meinen Vater. Wird er aus der überdrehten Lebhaftigkeit meiner Mutter schlau?
Jedenfalls geht er aus Höflichkeit und Rücksicht darauf ein und sagt schließlich: »Ja, wenn du dich schon darum gekümmert hast...«
Meine Mutter atmet so tief ein, dass es sich fast wie ein Schluchzen anhört.
Vom befreienden Kuss und einer elternlosen Fahrt
Die Reise ist anders als alles, was wir bisher gemeinsam in den Ferien unternommen haben. Angefangen davon, dass ständig eine Menge Leute um uns sind. Das könnte ja aufregend sein, aber leider ist niemand in meinem Alter dabei. Nur zwei Studentinnen, aber auch die sind viel zu alt. Ohne die Studentinnen und mich wären meine Eltern die Jüngsten. Wunderbar, ein Bus voller Gruftis!
Das hat meine Mutter natürlich nicht gewusst, und sie sagt, für mich tue es ihr furchtbar leid, aber die paar Tage wären ja bald vorüber und ich könne immerhin etwas für meine Bildung aus der Reise schlagen.
Ich knirsche mit den Zähnen, aber es hilft nichts. Ich kann nur auf Durchzug schalten, wenn uns der Reiseleiter totredet.
Wir müssen ununterbrochen Gebäude besichtigen, die sehr historisch sind und wo an jedem Tisch und an jedem Fenster in vergangenen Zeiten Sachen passiert sind, die der Reiseleiter wirklich toll erzählt - aber es ist einfach zu viel. Kaum haben mittags die Letzten von uns ihr Essen gekriegt, wird schon zum Weiterfahren gedrängt, obwohl wir noch mit hundert Touristen aus anderen Reisegruppen vor den Toiletten anstehen müssen. Und obwohl die Mahlzeiten sowieso mein einziger Trost sind.
So geht das tagelang. An den Abenden tun uns die Füße weh und wir wollen eigentlich nur noch ins Bett - zumindest mein Vater und ich.
Meine Mutter, die wird
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