Meerhexe
Mutter kein Laut in mein Zimmer dringt.
Erst als mein Vater weggefahren ist, kann ich wieder denken und empfinden. Und zwar sehr plötzlich - jemand dreht gerade ein Schlachtmesser in meiner Brust um. Außerdem meldet sich jetzt schlagartig meine Blase. Ich schleppe mich ins Bad. Danach ziehe ich mich an.
In der Küche steht das Frühstück fast unberührt auf dem Tisch. Ich setze mich und fange zu essen an. Mein Appetit wächst verrückterweise mit jeder Brötchenhälfte. Grimmig stopfe ich mich voll und kann es nicht fassen, dass es mir tatsächlich schmeckt. Ich habe einen Heißhunger!
Meine Mutter taucht einmal auf, mit käsigem Gesicht, macht eine Schranktür auf und zu und verschwindet wieder. Ich habe gerade den Mund voll, deshalb kann ich nichts sagen. Wüsste auch nicht, was. Du hast alles kaputt gemacht!, könnte ich ihr höchstens nachbrüllen und dabei Krümel sprühen. Aber das weiß sie ja sowieso, das muss ihr keiner sagen. Ich höre sie im Haus und auf der Terrasse, eine Zeit lang ist sie im Garten. An den Flügel setzt sie sich nicht.
Nach meinem ausgiebigen Frühstück geht es mir ein wenig besser. Meine Mutter sollte vielleicht auch was essen...
Sie ist aber alt genug, um das selbst zu wissen. Und schuld ist sie auch an allem.
Ich will nicht darüber nachdenken, dass ich jetzt unterwegs in die Berge sein könnte und warum ich eigentlich nicht mitgefahren bin. Meine Ruhe will ich haben. Und deshalb werde ich zu Britta gehen. Oma mag ich auch nicht sehen, keinen von der Familie, ich glaube, ich bin gründlich familiensatt. Britta, die weiß von nichts, und das ist gut so. Wir können baden gehen oder Zeitschriften durchblättern und Musik hören und uns gegenseitig Frisuren machen - und endlich die Ferien genießen, wobei Britta schon einen Vorsprung von zwei Wochen hat! Auf einmal habe ich es eilig.
Meine Mutter ist inzwischen dazu übergegangen, Noten zu sortieren. Zerstreut blickt sie mich an.
»Mama«, sage ich schnell, ehe das Mitleid mich aufweicht, »ich will zu Britta. Ist es dir recht?«
Sie überlegt angestrengt.
»Mama?«
Da nickt sie endlich und fragt: »Wann kommst du zurück?«
Sobald hier alles wieder stimmt!, will ich sie anfauchen. »Am Abend?«, schlage ich stattdessen vor.
»Geh nur«, sagt meine Mutter mit dem Versuch, mütterlich zu lächeln. Es gerät ihr restlos daneben.
Ich ergreife die Flucht.
Britta ist noch drei Tage zu Hause - mein Glück! -, ehe sie mit ihren Eltern und Lukas in Campingurlaub fährt. Am liebsten würde ich mich dazu einladen. Aber sie haben sich ein Wohnmobil für gerade mal vier Personen gemietet, und ich kann mir was Schöneres vorstellen, als so dicht mit Lukas zusammengepfercht zu sein. Abgesehen davon, dass ich jetzt gerade nicht wegwill. Auch wenn ich familiensatt bin, ist nicht zu leugnen, dass mir meine Eltern ununterbrochen im Kopf rumspuken. Meine Angst, dass es zur Scheidung kommt … Ein paar Mal bin ich drauf und dran, mit Britta darüber zu reden. Es wäre eine solche Wohltat! Aber dann stelle ich mir das Gespräch vor und klappe erschrocken den Mund zu. Als würde alles erst wahr werden - dass Mama was mit Ken hatte -, wenn ich es ausspreche.
Nein, ich behalte das schön für mich! Was weiß ich denn schon? Gar nichts! Sind doch alles bloß Vermutungen von mir!
Meine Mutter hat offensichtlich kein Bedürfnis, mir die Wahrheit zu sagen oder überhaupt mit mir darüber zu reden, sie hat Wichtigeres zu tun, sie dekoriert nämlich wie eine Wilde das ganze Haus neu. Jeden Abend, wenn ich heimkomme, fehlen irgendwo die vertrauten Vorhänge und sind durch andere ersetzt. Einmal muss ich dabei helfen, und da sehe ich erst, was für eine Höllenarbeit das ist. Meine Mutter hat rote Wangen, ist aufgeregt, begeistert, gestresst, alles zusammen, und freut sich riesig über die kolossale Wirkung, die angeblich von neuen Vorhängen ausgeht. Unser Duschvorhang muss auch dran glauben und die Klobürste und der Fußabtreter vor der Haustür und was sonst noch alles.
»Warum machst du das eigentlich?«, frage ich endlich.
»Was?«, gibt meine Mutter zurück.
»Dieses … Neue.« An der Wand hängt zum Beispiel ein Bild, wo vorher ein Spiegel war. Wo der Spiegel jetzt ist, habe ich noch nicht entdeckt.
Mama schaut mich erstaunt an. »Weil es dringend nötig war, Madeleine! Wirklich. Mit den Jahren veraltet und vergammelt alles, man achtet gar nicht mehr darauf … Jetzt sehe ich wieder, wie schön unser Haus ist. Ich hatte es nicht mehr
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