Meerhexe
umhergehen, sogar nach draußen, in den Garten, in die Garage, auf die Straße. Mehrmals macht sie sich am Telefon zu schaffen, aber ohne zu wählen. Da meine Zimmertür nur angelehnt ist, kann ich sie, wenn ich aufstehe, durch den Spalt sehen. Sie sitzt vor dem Tischchen und spielt unentschlossen mit den Schlingen des Kabels. Ob die Lampe, die lange Schatten wirft, schuld ist, weiß ich nicht. Jedenfalls sehe ich plötzlich, dass meine Mutter gar nicht mehr jung und schön ist. Sie lässt die Schultern hängen wie mein Vater unmittelbar nach der Sonnenfinsternis, sie hat Falten im Gesicht, die ich noch nie bemerkt habe, und auf einmal gleicht sie meiner Kieler Oma.
Erschrocken tappe ich ins Bett zurück. Nicht dass ich was gegen meine Kieler Oma hätte, sie ist alt, was ja in Ordnung ist - aber meine Mutter soll gefälligst jung bleiben!
Lange, lange Zeit höre ich nichts mehr, nur gelegentlich ein Auto auf der Straße. Ich glaube nicht mehr, dass mein Vater jetzt noch kommt, es ist ja schon bald Morgen. Ich drehe meinen Kopf ins Kissen und weine verzweifelt.
Dabei entgeht mir wohl das leise Quietschen des Garagentors.
Denn plötzlich wird die Haustür aufgesperrt, die niemand lautlos aufbringt, höchstens ein Einbrecher. Ich sitze mit einem Ruck senkrecht. Dann springe ich aus dem Bett.
Mein Vater trägt noch die Jacke, die er sich zur Sonnenfinsternis übergeworfen hat, und lässt den Schlüsselbund in die Tasche gleiten. Er sieht meine Mutter und mich in unseren Türen stehen, jede im Nachthemd, jede blass und stumm. Es kommt mir vor, als würden bei meinem Anblick seine Mundwinkel ein bisschen zucken, aber er hat keinen Gruß übrig und kein Lächeln. Er geht einfach in sein Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
Meine Mutter greift sich an den Hals und starrt seine Tür an. Dann lässt sie den Kopf auf die Brust sinken. Ganz langsam dreht sie sich um und verschwindet lautlos aus meinem Blickfeld, als würde ihr dunkles Zimmer sie schlucken.
Das Licht ist angeblieben und die Diele ist geisterhaft leer. Jetzt - jetzt müsste eine Bombe explodieren! Aber nichts geschieht.
Ich marschiere ins Bad und sitze eine Weile auf dem Klo. Einerseits bin ich unheimlich erleichtert. Andererseits würde ich uns alle drei am liebsten runterspülen. Oder ist vielleicht sonst was mit uns anzufangen? Weil ich aber gar nichts weiter tun kann, gehe ich erschöpft und mutlos in mein Zimmer zurück und schlüpfe ins Bett.
Eine Hand knipst meine Nachttischlampe an. Bevor ich noch aufschreien kann, erkenne ich meinen Vater. Er sitzt im Sessel, legt den Finger auf die Lippen und lächelt.
»Lenchen«, flüstert er, »ich habe einen wunderbaren Ort gefunden, wo wir beide hinfahren werden. Hast du Lust zum Bergwandern? Es ist eine Hütte ganz oben. Habe sie schon gemietet. Wir müssen unsere Vorräte allerdings selbst hinaufschleppen und unser Holz hacken. Aber ein Bach soll da sein, eine Quelle … Ach, Lenchen.« Mein Vater gluckst.
Er hört sich glücklich an, muss aber übergeschnappt oder einfach nur fix und alle sein. Mindestens zehn Minuten lang schwärmt er mir von der Hütte vor, die er selbst noch gar nicht gesehen hat, und ich kann ihm nur mit großen Augen zunicken. Natürlich ist das alles wunderbar, ganz großartig sogar, und es würde mir riesig Spaß machen. Aber was ist mit Mama? Sie soll doch offensichtlich nicht mit - er ignoriert sie, als wäre sie gestorben!
»Und Mama?«, wage ich schließlich zu fragen.
Sein Gesicht erstarrt. Er wischt mit der Hand durch die Luft. »Also«, sagt er abschließend, »jetzt schlafen wir uns noch ein paar Stunden aus und dann packen wir. Alles klar, Lenchen?«
Aber ja, mit mir ist alles klar. Das versichere ich ihm. Mein Vater drückt mich fest an sich. Dann bin ich wieder allein. Ich versuche draufzukommen, was überhaupt noch klar ist.
Mittendrin fällt mir Oma ein. Sie stirbt doch fast vor Angst und Sorge! Ich stehe auf, um sie anzurufen.
In der Diele ist die Lampe jetzt aus, doch ich kann erkennen, dass das Telefonkabel ins Zimmer meiner Mutter führt, unter der fest geschlossenen Tür hindurch.
Ach - Mama hat schon an Oma gedacht, gut! Leise tappe ich zurück. Ich will nur noch ins Bett.
Von drei Leuten, die die Flucht ergreifen
Ich habe ganz wirres Zeug geträumt: Ich habe mich verlaufen. Vor mir ist ein hoher Berg, den kann ich nie schaffen. Aber da oben ist doch die Hütte und ich muss zu meinem Vater und zu meiner Mutter hinauf! Auf einmal stehen lauter
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