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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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anscheinend nie müde. Wofür ich mir eine Erklärung zusammenreime. Sie demonstriert meinem Vater wahrscheinlich, dass sie jetzt ganz anwesend ist und nicht mehr in Gedanken weit weg bei jemand anderem. Sie hängt an den Lippen des Reiseleiters und interessiert sich für jedes einzelne Bild in jeder einzelnen Kirche, als hätte sie plötzlich die Musik gegen die bildende Kunst getauscht. Aber diese ganze Gesellschaftsreise passt überhaupt nicht zu ihr. Ich werde den Verdacht nicht los, dass sie vielleicht irgendwie Angst hatte, mit meinem Vater plötzlich allein zu sein, nach allem, was war, und dass sie sich deshalb einer Gruppe anschließen wollte. Angst ist sicher nicht das richtige Wort. Aber mir fällt kein besseres ein.
    Abends sitzen alle beim Wein und tun, als würden sie sich schon ewig kennen. Nur die Studentinnen nicht, die gehen lieber weg. Zu mir sind sie ganz nett, aber sie laden mich nicht ein mitzukommen. Ich weiß, was sie sehen: ein pummeliges Kind - knirsch -, das ihnen auf die Nerven fallen würde. Würde ich nicht und Kind bin ich auch keines! Die Alten öden mich an, deshalb verziehe ich mich freiwillig ins Bett, wobei mir mein Vater manchmal sehnsüchtig nachblickt - vermutlich wegen seiner müden Füße, die er endlich hochlegen will.
    In den Nächten passiert meines Wissens nichts. Ich schlafe in einem Behelfsbett im Zimmer meiner Eltern (was ich absolut blöd finde), und wenn sie hereinkommen, drehe ich mich immer zur Wand und ziehe mir die Decke über die Ohren. Falls sie etwas machen, müssen sie es sehr leise tun. Aber ich glaube eher, dass sie vor Erschöpfung nur noch zum Schlafen ins Bett fallen.
    Am Morgen vor der Heimreise bin ich mir nicht mehr so sicher. Haben sie nun in der vergangenen Nacht oder haben sie nicht? Denn mir fällt sofort auf, dass sich etwas geändert hat. Meine Eltern halten plötzlich wie aus heiterem Himmel Händchen! Und reden mit keinem anderen mehr! Sie schauen sich in die Augen und lächeln dabei nicht. Es sieht aus, als forschten sie nach etwas ganz Wichtigem und hätten es beinahe gefunden.
    Was der Reiseleiter quasselt, ist mir jetzt völlig schnuppe, ich drücke nur noch die Daumen. Und endlich ertappe ich meine Eltern tatsächlich dabei, wie sie sich hinter einer Säule küssen. Sie können mich nicht sehen, denn sie haben die Augen geschlossen. Deshalb gucke ich ungeniert zu.
    Ich weiß nicht, ob der Kuss von zwei Leuten schon mal eine dritte Person glücklicher gemacht hat. Außerdem finde ich, dass nach einem solchen Kuss nichts mehr sein kann, wie es vorher war. Und vorher, ist das nicht vielleicht absolute Kacke gewesen? Es ist genau, genau, genau der Kuss, den ich mir zur Sonnenfinsternis gewünscht habe. Ein Kuss wie ein Donnerschlag. Einer von der Sorte, die Dornenhecken zum Blühen bringt und ein ganzes Schloss aus dem Zauberschlaf erweckt. Hurrrraaa!

    »Wieder zwei Kilo weniger!«, ruft mein Vater, als er daheim von der Waage steigt. Sein Gewicht interessiert ihn, das Leben hat ihn wieder!
    Meine Mutter lächelt, mit einem Rest von Traurigkeit in den Augen. Sie sortiert nämlich gerade die Post und ich beobachte sie genau. Es ist kein Brief aus England dabei und auch keiner aus Amerika. Ich atme auf. Jetzt erst traue ich dem Glück wirklich.
    Jemand, der wochenlang gefoltert und in einem dunklen Verlies gehalten wurde und der plötzlich freigelassen wird und das Sonnenlicht sieht, kann sich kaum besser fühlen, als ich mich heute fühle. Ich finde außerdem, ich habe eine Menge Geduld mit meinen Eltern gehabt und größtes Taktgefühl bewiesen. Ich bin nur ganz selten ausgeflippt und habe auch über die dumme Gesellschaftsreise nicht zu viel gemotzt.
    Deshalb platze ich heraus: »Und jetzt will ich endlich richtige Ferien machen! Ich will weg, und zwar ohne euch!«
    So, das musste sein. Ich hole Luft und schaue die beiden herausfordernd an. Kein Grund mehr, sie wie rohe Eier zu behandeln.
    »War sie so schlimm?«, fragt meine Mutter erschrocken.
    »Wer?«
    »Die Reise!«
    »Allerdings«, sage ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Meine Eltern tauschen einen Blick. Dann streckt mein Vater die Hand nach mir aus. Aber ich bin nicht in Kuschellaune, ich weiche zurück. »Alle dürfen...«, beginne ich mit lauter Stimme.
    Mein Vater schüttelt den Kopf und grinst. »Psst, Madeleine, was regst du dich denn gleich auf? Wir haben ja gar nichts dagegen!«
    »Wir wollten dich eigentlich fragen«, macht meine Mutter weiter, »ob du nicht vielleicht nach

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