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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Berge um mich herum, und ich weiß nicht mehr, auf welchem die Hütte sein soll. Für einen kurzen Moment begreife ich, dass es nur ein Traum war, aber die Angst bleibt. Und dann schlafe ich schon wieder ein.
    Jemand weckt mich - mein Vater. Ich falle ihm um den Hals, überzeugt davon, dass ich die verdammte Hütte nun doch noch gefunden habe. Dann komme ich endlich ganz zu mir und bin gar nicht auf einer Hütte, aber ich freue mich trotzdem: Zum Fenster guckt ein Sommertag herein und mein Vater ist wieder da!
    Er sagt: »Jetzt machen wir uns ein ordentliches Frühstück, Lenchen, und dabei können wir überlegen, was wir alles für die Berge brauchen, einverstanden?«
    Mir fällt nichts ein, was dagegen spricht. So wach bin ich eben doch noch nicht.
    Wir laufen leise in die Küche, mein Vater im Schlafanzug und ich im Nachthemd. In der Tür bleiben wir erst mal sprachlos stehen. Nicht nur, dass es nach Kaffee riecht und nach Kakao und nach frischen Brötchen - nein, am gedeckten Tisch sitzt Mama und blickt uns entgegen. »Ich habe Frühstück gemacht«, sagt sie mit einer ganz fremden, angestrengten Stimme.
    Da geht mein Vater langsam zu seinem Platz und ich zu meinem. Niemand sagt etwas. Der Hunger, den ich schon am Vortag angesammelt habe, ist vollständig weg. Ich wünsche mir, in einem Albtraum zu stecken, das wäre weniger schlimm. Daraus wacht man wenigstens irgendwann auf.
    Mamas Hände an der Kaffeekanne zittern. Ihr Gesicht sieht aus, als hätte sie seit einer ganzen Woche nicht geschlafen. Vielleicht wäre auch ihr ein Albtraum lieber als dieses schweigsame Frühstück?
    Sie redet stockend von den Reiseprospekten, die sie in der Nacht durchgesehen habe, und von den Angeboten, die ihr gefallen könnten. Aktivurlaub, das hätte sie gern.
    Mein Vater rührt in seinem Kaffee und sieht nicht auf.
    Da frage ich schnell dazwischen: »Mama, hast du die Oma angerufen?«
    »Wie?«
    »Du hast doch noch telefoniert. Hast du die Oma angerufen?«
    Meine Mutter nickt. »Ja, die auch«, sagt sie tonlos.
    Ich bin beruhigt wegen Oma. Aber wen hat Mama sonst noch angerufen?
    »Ich habe außerdem … ich habe … etwas erledigt«, flüstert sie.
    Niemand antwortet ihr.
    »Etwas … erledigt«, wiederholt sie mit seltsamer Betonung. Mir wird ganz merkwürdig im Magen. Hat es vielleicht mit Ken zu tun?
    »Nun sag doch was, Robert«, bringt Mama nach einer Weile gequält heraus. Sie schiebt die flache Hand ein Stückchen über den Tisch auf seine Hand zu. »Ich dachte, dass wir vielleicht im Urlaub miteinander reden … Aber wenn du lieber jetzt willst...«
    Nach Reden sieht mein Vater nun wirklich nicht aus. Er hat ganz schmale Lippen und blickt meine Mutter nicht an, als er seinen einzigen Satz von sich gibt: »Madeleine und ich fahren für ein paar Tage in die Berge, wir wollen nur noch frühstücken.«
    Ich halte die Luft an.
    Meine Mutter steht auf. An der Tür sagt sie mühsam: »Dann … will ich euch jetzt nicht weiter stören. Wenn ihr etwas brauchen solltet … ich bin in meinem Zimmer.«
    In diesem Moment springe ich auf. Ich tue es nicht willentlich, ich muss einfach. Ich habe gar keine Zeit, einen Gedanken zu fassen oder mir zu überlegen, was ich da brülle: »Scheiße, Scheiße, Scheiße! Hört endlich auf damit!«
    Ich reiße meiner Mutter die Küchentür aus der Hand, die gegen die Wand knallt, und laufe an ihr vorbei zu meinem Zimmer. Dort schmettere ich meine Tür zu und drehe den Schlüssel um, als könnte ich damit die ganze Qual hinaussperren, die mich seit der Sonnenfinsternis im Griff hat und würgt. Ich kann einfach nicht mehr! Sollen sie sich zerfleischen oder versöhnen, mir ist es jetzt egal. Ich prügle auf mein Bett ein, dass es klatscht und staubt, aber es tut nicht einmal weh - das Polster ist zu weich.
    Meine Arme erlahmen, der rote Nebel vor meinen Augen zieht ab, ich krieche unter die Decke. Dort igle ich mich ein und ignoriere das Klopfen meines Vaters und seine Frage, ob ich am Packen sei. Später kommt er noch einmal und ruft leise durchs Schlüsselloch, dass er Brote für unterwegs geschmiert hat und dass ich jetzt endlich rauskommen soll, denn er sei in zehn Minuten fertig. Seine Stimme entfernt sich.
    Ich rühre mich nicht.
    Mein Vater macht noch einen dritten Versuch, ich höre, wie er seine Reisetasche vor meiner Tür absetzt. »Madeleine? Wenn du mitfahren willst, dann komm jetzt!«
    »Lasst mich in Ruhe, ihr alle!«, schreie ich wie von Sinnen. Ich meine sie beide, obwohl von meiner

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