Meerhexe
Kiel willst!«
Ich muss mich setzen. »Ich? Allein?«
»Ja, dachten wir«, sagt mein Vater.
»In dem Fall … also, das passt mir«, sage ich lässig. Dabei bummert mir das Herz vor Freude. Dann beschleicht mich ein Verdacht. »Ihr wollt mich loshaben?«
»Öm, wenn du das so nennen willst...« Mein Vater lacht und sieht meine Mutter an, mit einem Blick, der mich an den Kuss hinter der Säule erinnert. Die zwei benehmen sich widerlich verliebt, ich kann mir das nicht mehr länger mitanschauen. Deshalb stehe ich schnell auf. Immer müssen sie übertreiben.
»Ich ruf mal gleich Opa und Oma an«, sage ich geschäftsmäßig.
»Ja, mach das«, stimmt meine Mutter zu. »Grüße sie von uns und frag, ob du für eine Woche kommen kannst. Sag, dass du die Bahn nimmst und sie dich abholen müssen.«
»Ja, ja.« Ich winke ungeduldig ab, sie soll verschwinden und mir nicht zum Telefon nachlaufen. Hier und jetzt beginnt meine Freiheit!
Es ist total aufregend, am Montag in aller Frühe mit einem schweren Rucksack am Bahnhof zu stehen, im Bauch die Vorfreude auf acht tolle Stunden Fahrt. Nur leider lässt sich mein besorgter Begleiter nicht abwimmeln. Er nimmt seine Vaterpflichten ernst und will mich sicher und wohlbehalten im richtigen Zug wissen, ehe er abzieht. Der Rucksack ist deshalb so schwer, weil mein Vater ihn mit Proviant vollgestopft hat, als würde ich zu einer Überlebenstour aufbrechen. Ich habe nicht protestiert, weil ich schon erfolgreich die schicke Reisetasche meiner Mutter abgewehrt hatte. Eine Reisetasche!
Ich zische meinem Vater triumphierend zu: »Siehst du die Leute mit ihren Koffern und Taschen? Das sind alles Gruftis!«
Meine Augen bleiben sehnsüchtig an einer Gruppe von Jungen und Mädchen hängen, die mit ihren Rucksäcken genau wie ich auf den ICE nach Hamburg warten und die im Gegensatz zu den langweiligen Alten richtig aufgedreht sind. Würde mein Vater endlich gehen, könnten sie mich vielleicht entdecken und in ihren Kreis aufnehmen.
Aber er bleibt mir treu, bis ich sicher auf meinem reservierten Platz im Zug sitze. Die Jungen und Mädchen sind natürlich auf Nimmerwiedersehen in einem anderen Wagen verschwunden. Mein Vater tritt draußen noch immer auf der Stelle, formt Worte mit den Lippen und zeichnet mit den Händen was in die Luft - wahrscheinlich den gelben Abfahrtsplan, auf dem ich nach meiner Ankunft in Hamburg sofort nachsehen soll, wo der Regionalexpress nach Kiel einfährt. Kann ja sein, dass ich bis zu dem betreffenden Gleis Gott-weiß-wie-weit laufen muss... Die größte Angst meiner Eltern ist, ich könnte im Hamburger Hauptbahnhof verloren gehen, und diese Angst demonstriert mein Vater gerade da draußen vor allen Leuten.
Ich bin der Bahn unendlich dankbar dafür, dass sie die Jugendgruppe woanders einquartiert hat. »Es reicht! Willst du jetzt bitte verduften«, hauche ich hinter der Fensterscheibe und schenke meinem Vater ein breites Abschiedslächeln.
Der Zug hat ein Einsehen und fährt an - sehr schnell, schon ist mein Vater weg. Mir ist für einen Moment mulmig, aber dann lasse ich mich aufatmend in den Sitz fallen. Zug fahren kann nicht so schwer sein. Und ich habe acht Stunden vor mir, in denen alles Mögliche passieren kann...
Mir gegenüber haben zu meinem Schreck zwei graue Herren Platz genommen. Sie ziehen wichtige Papiere aus ledernen Köfferchen und breiten sie auf dem Tisch zwischen uns aus. Oje. Laut meinem Plan können sie in Augsburg, Nürnberg, Würzburg, Fulda, Kassel, Göttingen, Hannover oder Hamburg aussteigen. Ich bete, dass es Augsburg ist. Dann werden die Plätze frei für zwei Rucksackleute.
Als wir eine halbe Stunde später in Augsburg nach einer Minute Stopp wieder anfahren, heißt mein Wunsch Nürnberg. Aber die Herren holen sich kurz vorher Kaffee, was meine Aussichten auf ein Minimum reduziert. Tatsächlich bleiben sie nicht nur in Nürnberg, sondern auch in Würzburg sitzen und blockieren wertvolle Plätze, auf die das Schicksal zwei nette Jungen hätte setzen können. Ich futtere verbissen vor mich hin, aber vor jeder Station höre ich rechtzeitig damit auf. Denn wenn das Wunder geschieht, will ich nicht gerade mit vollen Backen kauen. Sobald aber der Zug anfährt, ohne dass sich etwas geändert hat, arbeite ich mich weiter durch meinen Proviant.
Nachdem sich auch in Fulda, Kassel und Göttingen nichts getan hat, stehe ich auf. Wer mir nachblickt, kann auf meinem Rücken Meet me here lesen, was der glatte Hohn ist. Bis Hannover spiele
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