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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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Bild und wischt ein Staubkörnchen vom Rahmen.
    Ein paar Jährchen - und das soll nicht lang sein. »Oma, weißt du eigentlich, wie lang ein einziger Sommer ist, wenn man jede Woche Schwimmen hat?«, rufe ich, wobei mir die Stimme kippt.
    Oma lächelt nachsichtig. »Zeit ist relativ.«
    »Was meinst du mit relativ?«
    »Nun ja«, überlegt Oma, »vom Standort her. Von wo aus du die Zeit betrachtest. Im Rückblick zum Beispiel kommt dir ein Sommer oder ein Jahr nicht mehr lang vor.«
    Im Rückblick, toll! Wie, bitte, soll ich das machen?
    Mich zwanzig Jahre vorauswünschen und von dort auf mich zurückschauen, als ich fett und unglücklich war?
    »Du bist noch nicht mal vierzehn, Madeleine. Wenn du so alt bist wie ich …«
    Klar, mit sechzig rege ich mich auch nicht mehr auf!, liegt mir auf der Zunge.
    »Du könntest schon mal damit anfangen, ein bisschen weniger zu essen«, schlägt Oma mir vor und setzt sich wieder an ihre Arbeit. »Das hat Alicia auch gemacht. Als ihr der erste Junge nachlief.«
    Ich horche auf. »Wann war das?«
    Oma überlegt. »Oh - wie soll ich das noch wissen...«
    Ich beuge mich vor. »War meine Mutter da noch mopsig?«
    Sie verdreht die Augen. »Musst du denn immer dieses Wort gebrauchen, Madeleine?«
    »Ja. Warum nicht? Wenn’s doch wahr ist.«
    »Ach, ihr jungen Leute. Also schön. - Ja!«
    Ja. Ich schließe die Augen und beginne, glücklich vor mich hin zu grinsen. Ein Junge hat sich auch schon für meine schöne Mama interessiert, als sie noch mopsig war. Einfach super!
    Doch dann kommt mir ein neuer Gedanke. »Oma, dieser Junge, der sich für Mama interessierte - der war doch nicht zufällig ein Fan von klassischer Klaviermusik?«
    »Nein, leider nicht.« Oma schüttelt den Kopf. »Deshalb war es uns ja überhaupt nicht recht. Wir hatten Angst, dass er Alicia auf andere Gedanken bringen könnte...«
    »Gut!«, rufe ich glücklich. »Sehr gut!« Omas längst überholte Sorgen sind mir egal. Jemand ist einem dicklichen Mädchen nachgelaufen. Aber nicht, weil sie so sagenhaft Klavier gespielt hat. Nicht deswegen. Weswegen dann? Weil eben ein Pummel auch attraktiv sein kann, jawohl, sage ich mir zufrieden. Und weil es vielleicht irgendwo ein paar Leute gibt, die das sehen! Zur Hölle mit Torsten und Lukas und den Typen aus meiner Klasse. Zur Hölle auch mit Kevin und Johannes und mit Bernd und Jossi sowieso. Pah!
    Oma lässt ihr Buch sinken. Als sie den Mund aufmacht, merke ich, dass die Gedanken von zwei Leuten, die über dasselbe reden, ganz verschieden sein können.
    »Ach, Madeleine, wie lange war ich nicht mehr in einem Konzert! Mir fällt ein, dass sie heute einen Liederabend mit einer Sopranistin geben. Hättest du vielleicht Lust? Opa mag ja sicher nicht...«
    »Klar, Oma.« Ein Konzert ist eine gute Idee für meinen letzten Abend hier und warum soll ich mir keine Sopranistin anhören? Ich kenne ja sehr viele Schubertlieder und andere auch.
    Opa hütet also Wohnung und Laden. Oma und ich, wir machen uns fein und gehen ins Konzert. (Das Feinste, was ich habe, ist mein Sonnenuntergangshemd. Nicht ganz Omas Geschmack. Wenn sie es rechtzeitig gewusst hätte und wenn nicht Sonntag wäre … Glück gehabt!)

    Manchmal erlebt man Überraschungen, wenn man überhaupt keine erwartet. Zum Beispiel in einem Konzert. Also, der Liederabend klärt mich über einiges auf. Erstens, dass eine Sopranistin durchaus schlank sein kann, und zweitens, dass es mehr gibt als Schubert & Co.
    Zum Beispiel Brecht und Weill. Brecht war ein Dichter, der hat nicht von Veilchen und Vergissmeinnicht geschrieben, sondern von Krieg und Tod und anderen grausamen Sachen. In seinen Gedichten fragt niemand wie bei Schubert ein Bächlein, ob sein Mädchen ihn liebt. Bei ihm sind die Mädchen meistens Huren und haben ein erbärmliches Leben, jedenfalls diesen Liedern nach. Die Gedichte von Brecht sind von modernen Komponisten vertont worden, kann ich dem Programm entnehmen. Von Kurt Weill zum Beispiel. Solche Lieder habe ich noch nie zuvor gehört.
    Die Sängerin ist eine Studentin, eine aus der Abschlussklasse im Fach Gesang, mit kurzen pechschwarzen Haaren, in engen Hosen und einem Glitzertop. Sie heißt Tamara und wird von ihrem Lehrer am Flügel begleitet. Ich wende den ganzen Abend kein Auge von ihr. Die Hände kleben mir zusammen, und dass ich nicht auch noch mit offenem Mund sabbere, ist reine Glückssache.
    Tamara hat eine große Stimme, aber nicht nur das. Sie kann flüstern, hauchen, höhnen und sogar

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