Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
Vom Netzwerk:
Wenigstens ein bisschen?
    Oma sucht in alten Büchern nach Eselsohren und streicht sie vorsichtig glatt. Die Bücher sind sehr wertvoll und das Papier ist schon brüchig. Deshalb macht sie das am liebsten allein.
    Ich betrachte eine lange Fotoreihe an der Wand. Alle Bilder stecken in schönen, antiken Rahmen. Sie hängen ziemlich hoch und ich habe sie eigentlich noch nie angeschaut. Das letzte Mal, als ich hier war, hätte ich mich dazu noch auf einen Schemel stellen müssen.
    »Deine Mutter hasst sie«, sagt Oma hinter mir.
    »Ach?«
    Auf jedem der vierzehn Bilder ist meine Mutter. Man sieht es nicht auf den ersten Blick. Denn das ist nicht Mama von heute, sondern das Kind Alicia. Auf dem ersten Foto jedenfalls. Mit jedem weiteren Bild wird sie ein wenig älter. Meistens sitzt sie am Flügel oder steht davor oder kriegt Blumen. Dreimal sind es keine Blumen, sondern Mozartkugeln.
    »Sie war beinahe ein Wunderkind«, sagt Oma leise.
    »Wieso nur beinahe?« Ich verzichte darauf, mich zu erkundigen, warum meine Mutter die Bilder hasst. Wahrscheinlich weil sie darauf total affige Kleider anhat. Sie ist aufgedonnert bis zum Gehtnichtmehr. Garantiert ist es diesen grässlichen Kleidern zu verdanken, dass Mama zu Hause in ihrem Album nur das erste und das letzte von den Bildern aufbewahrt. Die kenne ich nämlich. Die kleine Alicia im rosa Rüschenkleidchen und die große elegant in Schwarz. Die vielen dazwischen sind mir neu.
    Ich drehe mich um, weil ich keine Antwort bekomme.
    Oma lächelt traurig. »Schwer zu erklären. Alicia wurde nicht entdeckt, damals. So gut sie war. Ich meine, sie kam nicht groß raus. Wenn sie vielleicht einmal im Fernsehen gewesen wäre...« Oma hebt bedauernd die Hand und lässt sie wieder sinken. »Aber was ist nun mit dir, Madeleine? Spielst du wirklich nicht mehr Klavier?«
    Ich bin noch mit den Bildern meiner Mutter beschäftigt und wedle mit den Fingern nach hinten. »Mit solchen Händen?« Alicia hat übrigens auf jedem Foto eine andere Frisur. Bemerkenswert.
    »Wieso? Was ist mit deinen Händen?«
    »Ich hab doch Wurstfinger.«
    »Madeleine, was soll das? Du hast dieselben Hände wie deine Mutter. Schau doch mal die Bilder genau an!«
    Was hab ich? Ich verenge die Augen und suche die Hände.
    Tatsächlich! Wenn man es genau betrachtet, dann hat meine Mutter genau solche Hände gehabt wie ich. Und nicht nur das. Ich reiße Mund und Augen auf. »Oma, Mama war ja pummelig !«
    »Ein wenig schon«, gibt Oma zu. »Ich hab sie dauernd vor Augen, seit du da bist. Wie kannst du ihr nur so ähnlich sehen!«
    Das nimmt mir die Luft. Vielleicht sollte ich mich besser setzen, mir zittern die Knie. Moment, meine Knie … Sind die möglicherweise auch auf einem Foto? O Gott, falls da wirklich meine fetten Knie drauf sind, kippe ich jetzt gleich aus den Schuhen!
    Aber Alicias Konzertkleider sind lang und ersparen mir einen Ohnmachtsanfall. Doch sie verraten immer noch genug.
    »Oma!« Ich stürze zum Tisch. »War Mama mopsig?«
    Oma nimmt ein neues Buch und sagt entrüstet: »Doch nicht mopsig !«
    »Aber so wie ich?«
    »Ja, sag ich doch.«
    »Ich bin aber mopsig!«
    Oma legt das Buch ab und schiebt ihre Brille auf die Stirn. »Du übertreibst, Madeleine. Außerdem ist das nur vorübergehend.«
    »Vorübergehend?«
    »Natürlich. Oder siehst du bei Alicia auf dem letzten Bild noch was davon? Da war sie siebzehn und gertenschlank.«
    O mein Gott. Und vorher war sie ein Mops. Ich sinke entgeistert auf die Couch.
    Es ist sehr still, während Oma kopfschüttelnd die Brille auf die Nase rückt, um weiterzumachen. »Dass ihr darüber nicht sprecht, du und deine Mutter...« Sie gerät ins Grübeln. »Ach ja«, seufzt sie. »Alicia will sich nicht erinnern. Ich weiß, dass sie unglücklich war, ich weiß es. Trotz ihrer Erfolge. Wie dumm von ihr! Aber da konnte man glattweg nichts machen.«
    Oma beäugt mich mit plötzlicher Besorgnis. »Bist du auch so, Madeleine?«
    »Wie?«
    »Na, unzufrieden mit dir selbst?«
    »Kann man sagen«, brumme ich.
    »Ach, Mädchen!« Oma streicht behutsam an einem Buch herum. »Du musst deiner Mutter nicht alles nachmachen. Die dumme Phase jedenfalls nicht. Ständig unzufrieden sein! Ich habe Alicia nie verstanden. Wenn du die Fotos siehst - Erfolg an Erfolg. Kleine Konzerte zwar, aber trotzdem. Unzufrieden! Wegen einem bisschen Übergewicht! Das dauerte noch nicht mal lange, ein paar Jährchen nur.«
    Oma steht jetzt auf und geht zur Wand mit den Bildern. Sie berührt das letzte

Weitere Kostenlose Bücher