Meerhexe
schneidend und gellend singen, dass einem eine Gänsehaut über den ganzen Rücken läuft. Man versteht jedes Wort und jedes ist wichtig.
Ein Lied handelt vom Weib des Nazisoldaten. Alle acht Strophen fangen an mit: » Und was bekam des Soldaten Weib?« Also, sie kriegt: Stöckelschuhe aus Prag, ein polnisches Hemd aus Warschau, einen Pelzkragen aus Oslo, einen holländischen Hut aus Rotterdam, seltene Spitzen aus Brüssel, ein seidenes Kleid aus Paris, ein Kettchen aus Tripolis. In der letzten Strophe kriegt sie den Witwenschleier aus Russland.
Das ist richtig grausig. »Aus Russland bekam sie den Witwenschleier, zu der Totenfeier den Witwenschleier ...«
So viel Gänsehaut hat auf meinem Rücken kaum Platz.
Oder das Lied von der Seeräuber-Jenny, die Gläser wäscht und dabei von einem Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen träumt, das sie abholen kommt. Aber bevor sie davonrauscht, wird sie alle Leute köpfen lassen, alle!
Tamara ist bei diesem Lied so böse, wie sie schön ist. Eiskalt ist sie und gnadenlos. So möchte ich sein! Die Seeräuber-Jenny muss sie zweimal singen, das fordert der ganze Saal. Ich trample am lautesten.
»Und ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen wird liegen am Kai...«, summe ich begeistert vor mich hin, als wir nach dem Konzert heimgehen. Große Gedanken schwirren mir durch den Kopf.
»Madeleine?«
»Hm?«
»Du bist ja eigentlich noch viel zu jung … Aber wenn ich mich nicht täusche, hat es dir gefallen.«
»Mehr als alles auf der Welt, Oma!«, sage ich und bleibe stehen, um im Licht der Straßenlaterne ihre Augen zu suchen. »Mehr als alles, alles, alles. Und ich weiß jetzt, was ich will. Nämlich Gesangsunterricht! Und solche Lieder will ich singen!«
Außerdem werde ich mir die Namen Brecht und Weill merken.
Vom verheißungsvollen Beginn eines neuen Schuljahres
Wenn ich mir etwas wirklich wünsche, dann will ich es sofort haben und nicht von meinem Vater hören, dass es dafür noch relativ früh sei, dass ich mit Gesangsstunden gut noch ein wenig warten könne. Wir hätten genug Zeit, uns am Konservatorium den geeigneten Lehrer oder die passende Lehrerin auszusuchen. Er müsse sich erst mal unter seinen Kolleginnen und Kollegen umsehen.
Das Wort relativ, das ich nun nacheinander von Oma und Papa gehört habe, fällt noch in einem dritten Zusammenhang - als Isabelle zu Besuch kommt. Sie ist die einzige Freundin meiner Mutter. Die beiden kennen sich von ihrem Musikstudium her.
Isabelle will von Mama gleich beim Hereinkommen wissen, wie es ihr denn nun geht. Mama überlegt ein wenig. Dann sagt sie vorsichtig: »Ich bin jetzt relativ glücklich, Isabelle. Ja, so kann man es wohl nennen.«
Klingt irgendwie verdächtig nach tapferem Lächeln. Ich schließe lautlos meine Zimmertür und denke darüber nach. Was, bitte, heißt relativ glücklich? Entweder man ist glücklich oder nicht - aber relativ glücklich?
Heißt es, dass man schon mal glücklicher war oder überhaupt glücklicher sein könnte? Ist das Glück denn nichts Absolutes?
Auf mich machen meine Mutter und mein Vater seit dem Kuss hinter der Säule einen ganz und gar glücklichen Eindruck. Aber ich komme nicht drum rum zu denken, dass es mindestens in der Vorstellung meiner Mutter noch ein größeres Glück geben muss. Anders kann ich mir ihre Antwort nicht erklären.
Aber warum hat sie sich dann nicht für das größere Glück entschieden?
Zwar bin ich unheimlich froh, dass sie es nicht getan hat, aber ich würde es trotzdem gern begreifen. Im Übrigen droht noch die Frühjahrstournee mit Ken. Die Agentur hat schon den Terminplan geschickt, der einen Tag herumlag, bevor meine Mutter ihn unter ihre Noten schob. Was wird dann werden?
Ich kann Mama unmöglich fragen. Jede von uns hat ihren Geheimbereich, und ich fände es furchtbar, wenn meine Mutter in meinem herumstochern würde.
Ach ja, meiner heißt übrigens wieder Ulrich Falkenhauser.
In der achten Klasse zu sein, finden Britta und ich aufregend. Es gibt nun schon drei Jahrgänge, die an der Schule unter uns sind. Also geht es steil aufwärts mit uns!
Britta hat in den Ferien auf dem Campingplatz einen holländischen Jungen kennengelernt. Jetzt schreiben sie sich Briefe. Wenn Britta morgens die Augen verdreht und ihre Hand auf den Magen legt, knistert es dort, und jeder weiß, dass sie wieder einen Brief gekriegt hat. Das ist in der ersten Schulwoche zwei Mal passiert. Sie und Rinus schreiben sich auf Englisch, denn Britta kann
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