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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irma Krauss
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dritten Raum halten sich die Kunden am längsten auf.
    Oma versucht unauffällig, überall gleichzeitig zu sein. Sie gibt Auskunft und berät. Nebenbei macht sie mich auf ihre Lieblingsstücke aufmerksam und erzählt mir Geschichten dazu. Opa überwacht und kassiert, und wenn Oma außer Hörweite ist, lässt er leichter mit sich handeln. Das merken die Kunden und nützen es aus. Dann zwinkert er mir zu, seufzt, legt den Finger auf die Lippen und verdreht die Augen in Richtung Hinterzimmer.
    Ich bin gerne bei Opa, wenn gerade niemand was von ihm will. Mit den kleinen Kostbarkeiten auf Samt kennt er sich gut aus. Ich kann ihn alles fragen und er nimmt die Sachen auch für mich heraus. Ein Pillendöschen hat es mir besonders angetan.
    Opa sagt: »Das kriegst du vor deiner Abreise, falls du bis dahin nicht was anderes lieber haben willst. Soll ich es zur Seite legen?«
    Ich betrachte das Döschen, das mir schon beinahe gehört. »Nein«, entscheide ich, »spielen wir Schicksal. Wenn es weg ist, ist es weg.«
    Opa lächelt mir zu.
    Auf dem Gehsteig vor dem Laden stapeln sich Sonderangebote. Die müssen auch bewacht werden. Bald mache ich das zu meiner Hauptaufgabe. Nichts kriegt mich mehr für länger als eine Minute in die hinteren Räume. Denn dort könnte ich ja versäumen, wie zwei oder vier Jungen (vielleicht auch nur einer, was am schönsten wäre) hereinkommen und sich nach mir umsehen.
    Schon ab Dienstag warte ich heftig auf Besuch, am Mittwoch kriege ich vor Herzklopfen fast kein Essen runter, am Donnerstag kippt mein Warten in Verzweiflung um - aber ich warte noch immer. Am Freitag bin ich ganz nah am Heulen, und am Samstag packt mich dafür die Gewissheit, dass sie genau heute kommen. Warum sollen sie sich nicht fünf Tage lang Hamburg angesehen haben? Vielleicht lassen sie Berlin sausen und verbringen den Rest ihrer Ferien in Kiel!
    Johannes, formen meine Lippen lautlos seinen Namen, immer wenn ich mich unbeobachtet glaube. Erst als Opa den Tick unwillkürlich übernimmt, merke ich, dass mich die verflixten Kameras erwischt haben müssen. Und nicht nur die.
    Denn Oma rät mir, besser nicht so oft die Lippen zu spitzen. Oder ob ich mir vielleicht Lippenfältchen antrainieren will?
    Ich heuchle den beiden die ganze Woche lang lebhaftes Interesse an Antiquitäten vor, damit sie nichts von meiner wahren Seelenlage mitkriegen. Die ist am Samstagabend dann so trostlos, dass mir zum ersten Mal der Schnabel stillsteht. Oma und Opa sind gerührt. Denn sie schließen daraus, dass ich traurig bin, weil meine Zeit bei ihnen zu Ende geht und ich wieder in die Schule muss. Opa schenkt mir das Pillendöschen, und Oma will, dass ich mir noch einen Gegenstand aussuche, egal welchen, ich kriege alles von ihr. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich so viel Liebe zu Antiquitäten habe!
    Liebe, ja. Aber nicht zu Antiquitäten. Ich weiß, dass Bernd und Jossi schuld sind. Sie haben zuerst Kevin den Abstecher nach Kiel ausgeredet und dann waren es drei gegen einen. Welche Chance hätte Johannes gehabt?
    Vor lauter Niedergeschlagenheit futtere ich am Samstag mehr als an allen anderen Abenden zusammen. Keine Aufregung schnürt mir mehr den Hals zu, es ist alles vorbei. Morgen ist das Geschäft geschlossen und am Montag muss ich zum Zug.

    Trotzdem packt es mich noch ein letztes Mal. Am Sonntag laufe ich nach dem Frühstück zum Hafen und dort an alle Stellen, wo viele Touristen sind. Ich gucke mir die Augen aus. Aber mir ist dabei sonnenklar, dass niemand wegen einem Pummel wie mir nach Kiel kommt. Wie hab ich nur so verrückt sein können, eine ganze Woche lang im Laden zu hocken und zu warten? Warum bin ich nicht jeden Tag rausgegangen, ich dumme Kuh? Ich hätte vielleicht einen Jungen getroffen, von dessen Namen man keine Lippenfältchen bekommt! Überhaupt streiche ich die Namen Kevin, Bernd und Jossi aus meinem Gedächtnis und Johannes zuallererst! So ein schlaffer Typ, ohne Durchsetzungsvermögen!
    Zornig kehre ich zurück und verdrücke beim Mittagessen vier Klöße zum Braten.
    »Nun hast du dich an Omas Küche gewöhnt«, sagt Opa bedauernd, »und musst wieder weg!« Er selbst hat zwei Klöße geschafft und braucht dringend ein Mittagsschläfchen.
    Ich leiste Oma im Wohnzimmer Gesellschaft. Es zieht mich nicht mehr hinaus. Auch die Vorfreude auf die Bahnfahrt lässt auf sich warten. Stattdessen nagt das schlechte Gewissen an mir, weil ich Oma und Opa was vorgespielt habe. Kann man das an einem halben Tag wiedergutmachen?

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