Meerhexe
nicht Niederländisch und Rinus nicht Deutsch. Britta verbringt praktisch ihre ganze Freizeit mit Briefelesen und Briefeschreiben, weil sie so viele Wörter nachschlagen muss.
»Du wirst bestimmt sagenhaft gut in Englisch«, stelle ich ohne Neid fest, als wir am Freitagmittag heimgehen.
»Ja, vielleicht«, meint Britta. »Aber ich glaube, es sind die falschen Wörter.« Sie würde mir ja gern einzelne Abschnitte aus Rinus’ Briefen zeigen, sagt sie, aber seine Handschrift ist so grausig, dass sie sich geniert. Als sie und Rinus sich in den Ferien küssten, hat sie das noch nicht gewusst, und jetzt ist es ihr egal, Hauptsache, er schreibt und vergisst sie nicht.
Britta seufzt, als würde sie furchtbar gern mehr vom Küssen erzählen.
»Haben deine Eltern gesehen, wie ihr euch geküsst habt?«, frage ich also.
Daraufhin zieht Britta entsetzt die Luft ein. »Spinnst du? Es war sowieso nur ein einziges Mal. Und, na ja, wie im Film war es auch nicht.« Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. »Du weißt schon, Madeleine, wo sie sich richtig küssen, mit Leidenschaft. Für Leidenschaft war es zu schnell vorbei. Und jetzt bin ich traurig deswegen.«
»Musst du nicht sein«, tröste ich sie. »Ihr schreibt euch doch.«
»Ja.« Brittas Gesicht hellt sich auf. »Aber du, Madeleine, wenn wir schon vom Küssen reden...« Vielsagend schaut sie mich an und hat schon wieder eine bekümmerte Miene - wegen mir, sie kennt nämlich meine Ferienerlebnisse.
»Tja«, bestätige ich und verdrehe die Augen, »in Prag hätte ich höchstens einen Opi küssen können.« Ich grinse schnell. Es fällt mir überhaupt nicht schwer, hinzuzufügen: »Und was Johannes betrifft, den hab ich schon vergessen. Gesangsstunden sind mir viel wichtiger.«
Britta, die bei der Vorstellung, dass ich einen Opi küsse, zu kichern angefangen hat, stellt es gleich wieder ein und schüttelt verständnislos den Kopf. Sie glaubt mir zwar, aber begreifen kann sie es nicht. Singen soll besser sein als mit einem Jungen gehen? Hirnrissig! Da kann ich ihr gern noch einmal vom Konzert mit Tamara vorschwärmen, es hilft nichts. Aber immerhin behält sie meine angebliche Spinnerei für sich und beweist damit wieder mal, dass sie mich mag, auch wenn ich in ihren Augen verrückt bin.
Es gibt allerdings etwas, das ich Britta nicht verrate. Mein Gefühl für Ulrich ist mein absolutes Geheimnis. Inzwischen ist es mir nämlich wie Schuppen von den Augen gefallen: Das Lied der Meerhexe ist ein Tamara-Lied! Höhnend, gellend, gemein. Von allen Mädchen an der Schule kann nur ich so singen. Sonst hätte Ulrich mich nicht ausgewählt. Wie konnte ich nur denken, es sei wegen meiner Figur gewesen? Himmel, war ich blöd! Ich kann es kaum erwarten, dass die Proben losgehen und ich Ulrich endlich wieder sehe - wir haben ihn dieses Jahr in Musik nicht gekriegt.
Ach ja, meine Figur übrigens - meine Figur verändert sich. Nicht dass ich dünner oder leichter werde, das nicht. Aber wenn ich auf einen Spiegel oder ein Schaufenster zulaufe, bebt was und sieht richtig wie Brust aus. Das verlangt, glaube ich, nach einem BH.
Am Freitagmittag kommt auch mein Vater zum Essen heim. Die Aufnahmeprüfungen am Konservatorium sind vorbei, die ihn die ganze Woche in Trab gehalten haben.
Meine Mutter hat Salat und Knäckebrot vorbereitet und zum Dessert Joghurt. Als mein Vater das Angebot auf dem Küchentisch sieht, schüttelt er den Kopf.
»Nein«, sagt er mit Bestimmtheit und legt einen Arm um meine Mutter, den anderen um mich. »Wir gehen zur Feier des Tages essen. Habt ihr Lust?«
Essen gehen, Pommes, mmm! Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Andererseits habe ich mir gerade eben noch ausgerechnet, dass ich bei einigem guten Willen schon in zwei Jahren so aussehen kann, wie meine Mutter mit siebzehn ausgesehen hat. Dann wird Ulrich mich vielleicht nicht nur wegen meiner guten Stimme mögen.
Tapfer schlucke ich die Spucke runter. »Also, ich finde Salat mit Knäckebrot und Joghurt gut«, sage ich zur großen Freude meiner Mutter, die übrigens kein altes Gesicht kriegt wie meine Kieler Oma, das hab ich mir voll eingebildet.
Jetzt strahlt sie meinen Vater an. »Was sagst du dazu, lieber Robert? Madeleine hat sich was vorgenommen. Und was ist mit dir?«
»Ich hab die zwei Kilo noch nicht wieder zugelegt«, protestiert mein Vater.
»Aber du willst es jetzt tun.« Meine Mutter reibt mit ihrer Hand zart sein Bäuchlein und sieht ihm in die Augen.
Da seufzt er tief. »Darf ich mir
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