Meerhexe
nach Kiel kommen und den Laden nicht finden!
Dann stehen wir draußen und werden vom Strom der Reisenden in eine bestimmte Richtung geschoben. Es ist der Ausgang. Die Jungen haben nichts dagegen. Aber ich sollte besser nicht - mein Vater und der gelbe Abfahrtsplan wollen, dass ich den Regionalexpress nach Kiel suche. Oh, verdammt!
Gucken die Jungs sich wenigstens um, wenn ich jetzt vor der mistigen Tafel stehen bleibe?
Jawohl, das machen sie. Kevin kommt als Erster zurück und sagt mit ausgebreiteten Armen: »Tja, hier trennen sich also unsere Wege!« Er gibt meinem Rucksack einen freundschaftlichen Stoß und Bernd und Jossi machen dasselbe. Soll das Abschied auf Schweizerisch sein?
Johannes zögert. »Wir könnten Madeleine doch noch zu ihrem Bahnsteig bringen...«
Mein Herz fliegt ihm mit Lichtgeschwindigkeit zu. Nur wird leider nichts aus der Sache, denn Bernd und Jossi haben Appetit auf einen Hamburger, jetzt und sofort, deswegen sind sie schließlich nach Hamburg gekommen, haha.
Also noch einmal in Eile das Abschiedsgeklopfe. Johannes zuckt bedauernd mit den Schultern. Seinem Blick entnehme ich, dass er von mir mehr hält als von einem Hamburger.
Ich hebe die Hand. »Vergesst nicht, falls ihr nach Kiel kommt, Dänische Straße!«, rufe ich munter, während mein Herz bricht.
»Gebongt!« Auch Kevin wirft eine Hand hoch, ehe er Bernd und Jossi folgt.
Johannes steht noch einen Moment da. »Mach’s gut«, sagt er, lächelt mir zu und läuft dann rasch hinter Kevin zum Ausgang.
Ich habe das festgefrorene Grinsen noch im Gesicht, als ich schon längst von den vieren nichts mehr sehe. Endlich drehe ich mich um. Der gelbe Abfahrtsplan verschwimmt mir vor den Augen. Ein weiteres Wunder an diesem Tag ist, dass ich das richtige Gleis trotzdem finde. In zwei Minuten bin ich schon dort und sitze dann viel zu früh im Zug. Wir hätten noch locker...
Ich fühle mich verlassen und total einsam, mein Herz ist schwerer als mein Rucksack. Doch zu meiner eigenen Überraschung fange ich an, mich allmählich aufzurichten und vorauszudenken statt zurück. In Kiel werde ich Johannes ganz sicher wieder sehen - wenn er kommt. Sein Lächeln war danach, bestimmt. Wenn sie von Hamburg genug haben, kommen sie. Ein, zwei Tage, länger waren sie in keiner Stadt. Vielleicht kommen sie auch nur zu zweit - Bernd und Jossi können von mir aus in Hamburg alt werden. Da interessiert sich mal einer für mich und seine blöden Artgenossen verhindern alles! Die sollen bei McDonald’s verrotten.
Auf nach Kiel - ich fahre Johannes nur voraus!
Ich habe Oma und Opa zuletzt an Weihnachten gesehen, als sie uns besucht haben. Sie sind seitdem keinen Tag älter geworden. Was man von mir nicht behaupten kann.
Opa begutachtet mich nach der Art von Onkel Bangemann. Muss ein Alte-Herren-Tick sein! Oma schüttelt nur überrascht den Kopf, ehe sie mich für ein Sekündchen an sich zieht. »Ich freu mich, Madeleine«, sagt sie schlicht. Sie vergeudet ihre Zeit nicht mit Gefühlsäußerungen, das Geschäft wartet schon wieder. So ist sie, und wenn man das weiß, richtet man sich danach. Opa tut seit vierzig Jahren nichts anderes, sagt mein Vater. Was er nur von meiner Mutter wissen kann.
Egal. Jetzt bin ich erst mal hier und ich freue mich. Von Hamburg nach Kiel, das ist ja nur eine gute Stunde! O Johannes.
Wir gehen gleich in den Laden, der bis zum Abend geöffnet hat. In den Ferien läuft das Geschäft besonders gut, sagt Oma. Die Touristen kommen zum Stöbern herein und nehmen ein Mitbringsel oder ein Andenken mit nach Hause, wenn es klein genug und nicht zu teuer ist. Deshalb hat Oma viele handliche Antiquitäten eingekauft. Die haben nur den Nachteil, dass man sie leicht einstecken kann. Und weil der Laden außerdem aus drei Räumen besteht, hat Oma Überwachungskameras installieren lassen, die ihre Bilder hinter die Ladentheke am Ausgang senden. Dort sitzt Opa und guckt schräg nach unten, als wäre er immerzu schläfrig. Dass da ein Monitor ist, sieht man nicht.
Die Theke selbst ist ein wunderschönes, antikes Stück mit einer abschließbaren Glasplatte. Darunter liegen auf dunkelblauem Samt die besonders kleinen und wertvollen Gegenstände. Ringe, Ketten, Tabakdosen, Münzen, Anstecknadeln, Pillendöschen, Medaillons, Miniaturen. Hinter dem Glas einer verschlossenen Vitrine schimmern Kristall und Porzellan. An den Wänden hängen Bilder und Uhren. Im zweiten Raum sind Bücher und Möbel und im dritten lagert der Krempel in Regalen. Im
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