Meerjungfrau
hatte sie ans Licht gezerrt und ihn gezwungen, sich selbst ins Gesicht zu sehen. Er konnte den Anblick kaum aushalten. Vor allem konnte er nicht ertragen, was Lisbet zuallerletzt erlebt hatte. Hatte sich dadurch alles verändert? War er in diesem Moment ein Fremder für sie geworden?
Er öffnete wieder die Augen. Starrte an die Decke und lieà die Tränen flieÃen. Nun mochte sie kommen und ihn holen. Er würde nicht davonlaufen.
Auge um Auge, Zahn um Zahn.
P latz da, du Fettsack!«
Die Jungs rempelten ihn mit Absicht an. Er versuchte, sie zu ignorieren und in der Schule genauso unsichtbar zu sein wie zu Hause, aber das ging nicht. Auf jemanden wie ihn schienen sie nur gewartet zu haben. Er war anders als die anderen. Ein geeignetes Opfer. Das begriff er. Weil er so viel las, wusste und verstand er mehr als die meisten in seinem Alter. Im Unterricht glänzte er, und die Lehrer liebten ihn. Doch was nützte das, wenn er weder den Ball traf noch schnell rennen oder weit spucken konnte. Solche Dinge zählten. Das waren Talente, die etwas hermachten.
Gemächlich schlenderte er nach Hause. Er hielt dabei die Augen offen, um sicherzugehen, dass ihm niemand auflauerte. Zum Glück hatte er es nicht weit. Der Weg war zwar voller Gefahren, aber er war kurz. Er brauchte nur den Håckebacken hinunterzugehen, nach links abzubiegen und ein Stück am Kai in Richtung Badholmen zu spazieren. Dort lag das Haus, das sie von der Alten geerbt hatten.
Mutter nannte sie immer noch so. Jedes Mal, wenn sie genüsslich eine ihrer Sachen in den Container im Garten warf.
»Wenn das die Alte sehen könnte. Jetzt landen ihre guten Stühle auf dem Müll.« Mutter räumte auf wie eine Besessene. »Sieh mal, jetzt werfe ich das feine Service deiner GroÃmutter weg.«
Er hatte nie erfahren, wann aus ihr die Alte geworden und warum Mutter so wütend auf sie war. Einmal hatte er Vater danach gefragt, aber der hatte nur etwas Unverständliches in seinen Bart gemurmelt.
»Bist du schon zu Hause?« Mutter kämmte Alice gerade die Haare.
»Wir hatten zur selben Zeit wie immer Schluss«, antwortete er. Ãber Alices Lächeln sah er hinweg. »Was gibt es zu essen?«
»Du hast bereits für den Rest des Jahres genug gespachtelt. Heute bekommst du kein Abendessen. Du kannst von deinem Fett zehren.«
Es war erst vier Uhr. Schon jetzt spürte er, wie hungrig er werden würde, aber er sah Mutter an, dass Widerspruch zwecklos war.
Oben in seinem Zimmer machte er die Tür hinter sich zu und legte sich mit einem Buch aufs Bett. Hoffnungsvoll steckte er die Hand unter die Matratze. Wenn er Glück hatte, hatte sie etwas übersehen, aber es war nichts mehr da. Sie war geschickt. Egal, wie gut er sie versteckte, immer entdeckte sie seine eisernen Reserven an Grundnahrungsmitteln und SüÃigkeiten.
Ein paar Stunden später knurrte sein Magen laut. Er weinte fast vor Hunger. Unten roch es nach Zimtschnecken. Mutter hatte nur gebacken, um ihn mit dem frischen Duft in den Wahnsinn zu treiben. Er schnupperte, wälzte sich auf die Seite und bohrte das Gesicht ins Kissen. Manchmal überlegte er, ob er abhauen sollte. Es würde ohnehin niemanden kümmern. Alice würde ihn vielleicht vermissen, aber sie war ihm egal. Sie hatte ja Mutter.
Mutter widmete Alice ihre gesamte freie Zeit. Warum blickte Alice nicht sie mit ihren bewundernden Augen an? Warum hielt sie für selbstverständlich, wofür er alles gegeben hätte?
Er musste eingedöst sein, denn ein zaghaftes Klopfen weckte ihn. Das Buch war ihm aufs Gesicht gefallen, und er hatte im Schlaf gesabbert, denn das Kissen war ganz nass von seiner Spucke. Er wischte sich die Wange ab und machte verschlafen die Tür auf. Alice stand davor und hielt ihm eine Zimtschnecke hin. Obwohl ihm das Wasser im Mund zusammenlief, zögerte er. Mutter würde böse werden, wenn sie merkte, dass Alice ihm heimlich etwas zu essen brachte.
Alice sah ihn mit groÃen Augen an. Sie bettelte darum, von ihm wahrgenommen und geliebt zu werden. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild auf. Er sah und spürte wieder den glitschigen Babykörper. Alice, die ihn vom Grund der Wanne anstarrte. Wie sie fuchtelte und dann ganz still wurde.
Er riss ihr die Zimtschnecke aus der Hand und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Aber das nützte nichts. Das Bild blieb.
P atrik hatte Gösta und Martin nach Uddevalla
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