Meerjungfrau
Ermittlungen.
»Erzähl schon, was passiert ist. Was habt ihr für Erkenntnisse gewonnen?« Mellberg beugte sich eifrig vor.
»Ich wollte das eigentlich gemeinsam mit allen in der Küche besprechen. Wenn das für dich in Ordnung ist«, fügte Patrik verbissen hinzu.
Mellberg überlegte eine Weile. »Vielleicht ist das eine gute Idee. Nicht nötig, alles zweimal durchzukauen. Können wir dann loslegen, Hedström? Du weiÃt ja, dass der Faktor Zeit bei einem solchen Fall eine wichtige Rolle spielt.«
Patrik kehrte seinem Chef den Rücken zu und verlieà den Raum. In einem Punkt hatte Mellberg zweifellos recht. Zeit war wichtig.
E s ging nur ums Ãberleben. Aber das erforderte von Jahr zu Jahr eine gröÃere Anstrengung. Der Umzug hatte allen gutgetan, auÃer ihm. Vater hatte eine Arbeitsstelle nach seinem Geschmack gefunden, und Mutter war froh, im Haus der Alten nun alles verändern zu dürfen. Sie löschte alle Spuren aus. Alice schien die Ruhe gutzutun, die hier zumindest neun Monate im Jahr herrschte.
Mutter unterrichtete sie zu Hause. Vater war anfangs dagegen gewesen. Er fand, Alice müsse mal rauskommen und mit Gleichaltrigen zusammen sein, sie brauche auch andere Menschen. Mutter hatte ihn angesehen und in eisigem Ton gesagt:
»Alice braucht nur mich.«
Das war das Ende der Diskussion.
Er selbst war immer dicker geworden und aà pausenlos. Seine Gier schien ein Eigenleben zu führen. Zwanghaft stopfte er alles in sich hinein, was ihm in die Finger kam. Mutters Aufmerksamkeit erregte er damit jedoch nicht mehr. Manchmal streifte ihn ein angewiderter Blick, aber meistens ignorierte sie ihn. In seinen Gedanken war sie schon lange nicht mehr seine schöne Mutter, und er sehnte sich auch nicht mehr nach ihrer Liebe. Er hatte sich damit abgefunden, dass man ihn nicht lieben konnte. Er verdiente eben keine Liebe.
Die Einzige, die ihn liebte, war Alice. Doch sie war genauso eine Missgeburt wie er. Sie bewegte sich ungelenk, sprach undeutlich und bekam die einfachsten Dinge nicht hin. Sie war acht Jahre alt und konnte sich nicht einmal die Schuhe zubinden. Ständig klammerte sie sich an ihn. Sie folgte ihm wie ein Schatten. Wenn er morgens zum Schulbus ging, drückte sie sich an die Fensterscheibe und warf ihm sehnsüchtige Blicke hinterher. Er verstand es nicht, aber er lieà es zu.
Die Schule war eine Qual. Jeden Morgen, wenn er in den Bus stieg, hatte er das Gefühl, er müsse ins Gefängnis. Auf den Unterricht freute er sich zwar, aber vor den Pausen grauste ihm. Die Mittelstufe war schrecklich gewesen, die Oberstufe noch schlimmer. Permanent drangsalierten, ärgerten und schubsten sie ihn, brachen sein SchlieÃfach auf und brüllten ihm auf dem Schulhof Beleidigungen nach. Da er nicht dumm war, begriff er, dass er ein geeignetes Opfer war. Mit seinem fetten Körper beging er die allergröÃte Sünde: Er hob sich von den anderen ab. Er konnte das verstehen, aber leichter wurde es dadurch nicht.
»Siehst du deinen Schwanz beim Pinkeln, oder ist dir dein Bauch im Weg?«
Erik. Umgeben von seinen Anhängern hing er betont lustlos auf einem der Tische auf dem Schulhof herum. Er war am schlimmsten. Der beliebteste Junge der Schule, gutaussehend und selbstbewusst, vorlaut gegenüber den Lehrern und mit einem unerschöpflichen Vorrat an Zigaretten ausgerüstet, die er nicht nur selbst rauchte, sondern auch gnädig an seine Fans verteilte. Er wusste nicht, wen er mehr verachtete. Erik, der von purer Bösartigkeit getrieben zu sein schien und sich ständig neue Gemeinheiten ausdachte, oder die grinsenden Idioten, die bewundernd neben ihm saÃen und sich in seinem Glanz sonnten.
Gleichzeitig hätte er alles gegeben, um einer von ihnen zu sein. Neben Erik auf diesem Tisch zu sitzen, eine Zigarette anzunehmen, falls er ihm eine anbot, Kommentare zu den Mädchen abzusondern, die vorbeispazierten und die Jungs mit entzücktem Kichern und roten Wangen für ihre Sprüche belohnten.
»Hör mal! Ich rede mit dir. Du sollst antworten, wenn ich dich etwas frage!« Erik rutschte von der Tischplatte, die beiden anderen sahen ihm gespannt zu. Bei Magnus, diesem sportlichen Typ, der ihm kurz in die Augen sah, meinte er manchmal einen Hauch von Mitgefühl zu erkennen, aber das war jedenfalls nicht groà genug, als dass Magnus riskiert hätte, bei Erik in Ungnade zu fallen. Kenneth war zu feige, um
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