Meerjungfrau
geschlossenen Augen legte er die Wange auf die Tischplatte. Er versuchte, in die Stille hineinzufinden und das starke Gefühl zu verdrängen, jemand wolle unter seine Haut kriechen.
Ein blaues Kleid. Es glitt flimmernd hinter seinen Lidern vorbei. Verschwand und kam wieder. Das Kind in ihrem Arm. Warum sah er nie das Gesicht des Kindes? Es war so leer und konturlos, dass er es gar nicht erkennen konnte. War ihm das je gelungen? Oder war das Kind immer von seiner wahnsinnigen Liebe zu ihr überschattet worden. Er erinnerte sich nicht mehr, es war so lange her.
Das Weinen begann ganz langsam, und allmählich bildete sich auf dem Tisch eine Lache. Dann wurde es stärker, seine Brust hob und senkte sich, und schlieÃlich bebte der ganze Körper. Christian hob den Kopf. Er musste die Bilder loswerden, musste sie loswerden. Sonst zerbrach er. Er lieà den Kopf schwer auf den Tisch fallen. Seine Wange prallte mit voller Wucht auf die Platte. Er spürte das Holz auf der Haut und hob den Kopf wieder und wieder und wieder. Und knallte ihn auf die harte Tischplatte. Verglichen mit dem Jucken und dem Brennen unter seiner Haut war der Schmerz fast angenehm. Aber gegen die Bilder konnte er nichts ausrichten. Noch immer stand sie ganz deutlich und lebendig vor ihm. Lächelnd hielt sie ihm die Hand hin, sie war so nah, dass sie ihn berührt hätte, wenn sie die Hand noch ein kleines bisschen weiter ausgestreckt hätte.
Hatte er oben ein Geräusch gehört? Er hielt mitten in einer Bewegung inne. Sein Kopf verharrte zehn Zentimeter von der Tischplatte entfernt, als hätte jemand auf Pause gedrückt und den Film über sein Leben angehalten. Reglos lauschte er. Doch, er hatte etwas gehört. So etwas wie leise Schritte.
Langsam setzte sich Christian auf. Sein ganzer Körper war gespannt. Dann erhob er sich vom Stuhl und bewegte sich so lautlos wie möglich auf die Treppe zu. Er hielt sich am Geländer fest und drückte sich an die Wand, denn auf dieser Seite knarrten die Stufen weniger. Im Augenwinkel flatterte etwas vorbei, lieà sich kurz oben im Flur blicken. Oder hatte er es sich eingebildet? Nun war es weg, und das Haus war wieder stumm und still.
Eine Stufe knarrte, er schnappte nach Luft. Wenn sie dort oben war, wusste sie jetzt, dass er auf dem Weg zu ihr war. Erwartete sie ihn? Eine seltsame Ruhe breitete sich in ihm aus. Die Familie war nicht mehr da. Ihr konnte sie keinen Schmerz mehr zufügen. Nur er war noch hier. Jetzt ging es nur noch um sie beide, wie von Anfang an.
Ein Kind wimmerte. War es überhaupt ein Kind? Er hörte den Laut noch einmal, der nun eher klang wie ein Geräusch, das alte Häuser von sich geben. Sachte ging Christian noch ein paar Schritte weiter und betrat die obere Etage. Der Flur war leer. Nur sein Atem war zu hören.
Die Tür zum Kinderzimmer stand offen. Dort drinnen herrschte ein einziges Chaos. Die Spurensicherung hatte alles noch mehr durcheinandergeworfen und mit ihrem Fingerabdruckpulver überall schwarze Flecken verteilt. Er setzte sich mitten auf den FuÃboden und betrachtete die Buchstaben an der Wand. Auf den ersten Blick sah die Farbe immer noch aus wie Blut. Du hast sie nicht verdient .
Sie hatte recht, er hatte sie tatsächlich nicht verdient. Christian wandte den Blick nicht von den Worten ab und lieà sie in sein Bewusstsein eindringen. Er würde alles in Ordnung bringen. Nur er konnte das. Stumm las er den Satz noch einmal. Auf ihn hatte sie es abgesehen. Nun wusste er auch, wo sie sich mit ihm treffen wollte. Er würde ihr geben, was sie verlangte.
»Lange nicht gesehen.« Patrik nahm die Rolle Haushaltspapier von der Arbeitsfläche und tupfte sich die Stirn ab. Er schwitzte wie wahnsinnig. Offenbar war seine Kondition noch schlechter als sonst. »Die Lage sieht folgendermaÃen aus: Kenneth Bengtsson liegt im Krankenhaus. Gösta und Martin werden gleich mehr darüber berichten.« Er nickte ihnen zu. »AuÃerdem ist heute Nacht jemand in das Haus von Christian Thydell eingedrungen. Die Person hat zwar niemanden körperlich verletzt, aber mit roter Farbe eine Botschaft an die Wand im Kinderzimmer geschrieben. Natürlich steht die ganze Familie unter Schock. Wir müssen jetzt davon ausgehen, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der keine Hemmungen kennt und deshalb gefährlich sein könnte.«
»Ich hätte heute Morgen gerne an dem Einsatz teilgenommen.« Mellberg
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