Meerjungfrau
für tiefe Ausschnitte trägt! Wen sie damit wohl beeindrucken will?«
Aus dem Zusammenhang gerissene Gerüchte wurden unermüdlich zu einer Mischung aus Realität und Erfindung vermengt. Am Ende war es plötzlich die Wahrheit.
Sie ahnte, was man sich im Ort erzählte. Aber solange sie hier zu Hause saÃ, spielte es keine Rolle. Sie konnte sich kaum überwinden, an den Videofilm zu denken, den Ludvig gestern der Polizei gezeigt hatte. Sie hatte nicht gelogen, als sie sagte, sie habe nichts davon gewusst. Andererseits hatte der Film sie nachdenklich gemacht. Natürlich hatte sie manchmal geahnt, dass Magnus ihr etwas vorenthielt. Oder war sie so durcheinander, dass sie sich das im Nachhinein zusammenreimte? Sie glaubte sich jedoch zu erinnern, dass sie sich mitunter darüber gewundert hatte, wie ihren sonst so fröhlichen Mann plötzlich eine merkwürdige Schwermut überkam. Sie fiel wie ein Schatten auf ihn, eine Art Sonnenfinsternis. Ein paarmal hatte sie ihn danach gefragt. Nun wusste sie es wieder. Sie hatte ihm die Wange getätschelt und gefragt, woran er dachte. In diesen Momenten schien das Licht wieder anzugehen. Als hätte sie den Schatten verscheucht, bevor sie ihn deutlich erkennen konnte.
»Natürlich an dich, mein Liebling«, hatte er geantwortet und sie geküsst.
Es gab sogar Momente, in denen sie etwas merkte, obwohl man es ihm äuÃerlich nicht ansah. Doch jedes Mal wischte sie den Gedanken weg. Er tauchte so selten auf, und sie hatte keine weiteren Anhaltspunkte.
Seit gestern konnte sie gar nicht mehr aufhören, daran zu denken. An den Schatten. War er der Grund dafür, dass er nicht mehr da war? Woher kam der Schatten? Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Sie hatte immer geglaubt, sie hätten keine Geheimnisse voreinander und sie wisse alles über ihn, genau wie er über sie. Was, wenn sie sich getäuscht hatte? Wenn sie vollkommen ahnungslos gewesen war?
Der Schatten nahm immer mehr Raum in ihrem Bewusstsein ein. Sie sah Magnusâ Gesicht vor sich. Nicht das glückliche, warmherzige und liebevolle, neben dem sie in den vergangenen zwanzig Jahren jeden Morgen hatte aufwachen dürfen, sondern das Gesicht aus dem Film. Das so verzweifelt und verzerrt war.
Weinend schlug Cia die Hände vors Gesicht. Sie wusste nichts mehr. Magnus schien ein zweites Mal zu sterben. Ihn noch einmal zu verlieren würde sie nicht überleben.
Patrik drückte auf die Klingel, und nach einer Weile wurde die Tür geöffnet. Ein verhutzeltes Männlein blickte heraus.
»Ja?«
»Patrik Hedström von der Polizei Tanum. Und das ist meine Kollegin, Paula Morales.«
Der Mann musterte sie beide.
»Da haben Sie ja einen weiten Weg hinter sich. Womit kann ich dienen?« Er sprach leise, aber mit distanzierter Schärfe.
»Sind Sie Ragnar Lissander?«
»Das bin ich.«
»Wir würden gern hereinkommen und ein paar Worte mit Ihnen wechseln. Falls sie zu Hause ist, gerne auch mit Ihrer Frau«, sagte Patrik. Obwohl er sich so höflich ausdrückte, bestand kein Zweifel daran, dass dies nicht als Frage gemeint war.
Der Mann schien einen Moment zu zögern. Dann lieà er sie herein.
»Meine Frau ist ein wenig unpässlich und ruht sich gerade aus, aber ich frage sie, ob sie nachher vielleicht für eine Weile herunterkommt.«
»Das wäre gut.« Patrik war sich nicht sicher, ob Ragnar Lissander der Meinung war, sie sollten so lange im Flur warten.
»Setzen Sie sich schon rein. Wir kommen gleich«, beantwortete er die unausgesprochene Frage.
Patrik und Paula folgten seinem ausgestreckten Arm und entdeckten links das Wohnzimmer. Sie hörten, wie Ragnar Lissander die Treppe hinaufging, und sahen sich um.
»Nicht besonders gemütlich«, flüsterte Paula.
Patrik konnte das nur bestätigen. Das Wohnzimmer erinnerte an einen Ausstellungsraum. Alles war blitzsauber, und die Bewohner des Hauses schienen eine gewisse Vorliebe für Nippesfiguren zu haben. Vor dem braunen Ledersofa stand der obligatorische Glastisch. Kein Fingerabdruck war darauf zu sehen, und Patrik grauste es bei dem Gedanken, wie die Tischplatte bei ihnen zu Hause ausgesehen hätte, wo nichts vor Majas klebrigen Fingern sicher war.
Besonders auffällig war, dass es in dem Zimmer keine persönlichen Gegenstände gab. Keine Fotos, keine Bilder, die die Enkelkinder gemalt hatten, und keine Postkarten von
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