Meerjungfrau
schien, als hätte Christian das Leben ausradiert, das er vor seiner Zeit in Fjällbacka geführt hatte. Oder wollte er nur mit ihr nicht darüber sprechen? Der Gedanke tat weh, aber er ging ihr nicht aus dem Kopf. Auch an seinem Arbeitsplatz hatte er das Herz nicht auf der Zunge getragen, doch das war etwas anderes. Sie hatte den Eindruck gehabt, sie und Christian wären sich nähergekommen, während sie gemeinsam an dem Manuskript feilten, sich gegenseitig Bälle zuwarfen, über den Ton der Erzählung und die sprachlichen Nuancen diskutierten. Vielleicht war alles ganz anders gewesen.
Erica musste mit noch einem Freund von Christian reden, bevor ihre Phantasie mit ihr durchging. Aber mit wem? Sie hatte nur eine vage Vorstellung von seinem Freundeskreis. Magnus Kjellner fiel ihr als Erster ein, aber er kam nicht in Frage, falls sich nicht noch ein Wunder ereignete. Christian und Sanna schienen auch mit dem Bauunternehmer Erik Lind und dessen Kompagnon Kenneth Bengtsson zu verkehren. Erica hatte keine Ahnung, wie nahe sie Christian standen und mit wem sich ein Gespräch am meisten lohnte. AuÃerdem: Wie würde Christian reagieren, wenn er erfuhr, dass sie seine Freunde und Bekannten ausquetschte?
Sie beschloss, ihre Bedenken über Bord zu werfen. Die Neugier überwog. Im Ãbrigen war es ja zu seinem Besten. Wenn er nicht herausfinden wollte, wer ihm diese furchtbaren Briefe schickte, musste sie das wohl für ihn tun.
Plötzlich wusste sie, mit wem sie sich unterhalten sollte.
Ludvig blickte erneut auf die Uhr. Bald war Pause. Mathe war sein absolut schlimmstes Fach, und der Unterricht war wie immer zäh wie Kaugummi. Noch fünf Minuten. Heute hatten sie mit der 7a Pause, was bedeutete, dass er zusammen mit Sussie rausdurfte. Sie hatte ihren Spind in der Reihe hinter ihm. Wenn er Glück hatte, packten sie ihre Bücher gleichzeitig weg. Seit über einem halben Jahr war er in sie verliebt. AuÃer seinem besten Freund Tom war niemand eingeweiht, und der wusste, dass er eines langsamen und schmerzhaften Todes sterben würde, wenn er es ausplauderte.
Endlich klingelte es. Dankbar schlug Ludvig das Mathebuch zu und verlieà fluchtartig das Klassenzimmer. Auf dem Weg zu den SchlieÃfächern hielt er Ausschau nach Sussie, aber sie lieà sich nirgendwo blicken. Vielleicht hatte sie noch nicht Schluss.
Bald würde er sich trauen, mit ihr zu sprechen. Er hatte sich entschieden, er wusste nur noch nicht, wie er anfangen und was er sagen sollte. Er hatte schon versucht, Tom zu überreden, sich an eine ihrer Freundinnen ranzumachen, damit er ihr auf diese Weise näherkam. Doch da Tom sich beharrlich weigerte, musste Ludvig sich etwas anderes einfallen lassen.
Bei den Schränken war niemand. Er verstaute die Bücher in seinem Fach und schloss es sorgfältig ab. Vielleicht war sie heute gar nicht da. Er hatte sie den ganzen Tag noch nicht gesehen. Vielleicht war sie krank oder hatte frei. Diesen Gedanken fand er so deprimierend, dass er überlegte, ob er die nächste Stunde schwänzen sollte. Plötzlich klopfte ihm jemand auf die Schulter.
»Entschuldige, Ludvig, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Hinter ihm stand der Rektor. Er sah blass und ernst aus. Ludvig begriff innerhalb von Sekunden, was er von ihm wollte. Sussie und alles andere, was ihm einen Augenblick zuvor noch wichtig erschienen war, wich einem Schmerz, der so tief ging, dass er glaubte, er würde ihn immer spüren müssen.
»Ich möchte dich bitten, mit in mein Zimmer zu kommen. Elin wartet dort bereits.«
Er nickte. Es war überflüssig, nach dem Grund zu fragen, er kannte ihn ja. Der Schmerz strahlte bis in die Fingerspitzen aus. Als er dem Rektor folgte, fühlte er seine FüÃe nicht mehr. Er bewegte sie vorwärts, weil er wusste, wie man das machte, aber er merkte es nicht.
Im Flur, auf halbem Weg zum Zimmer des Rektors, traf er Sussie. Sie schaute ihn an, sah ihm in die Augen. Ihm schien, als wäre es eine Ewigkeit her, dass ihm dieser Blick etwas bedeutet hatte. Er nahm sie kaum wahr. Es gab nichts auÃer dem Schmerz. Ringsherum war alles leer.
Elin fing an zu weinen, als er eintrat. Wahrscheinlich hatte sie bis jetzt tapfer gegen die Tränen angekämpft. Sie sprang auf und warf sich schluchzend in seine Arme. Er hielt sie ganz fest und strich ihr über den Rücken.
Der Polizist, den er schon einige Male gesehen hatte, stand
Weitere Kostenlose Bücher