Meerjungfrau
Louise. »Besoffen fahre ich immer noch besser als du, wenn du nüchtern bist.« Sie schwankte. Erik sah auf die Uhr. Es war drei Uhr nachmittags, und sie hatte bereits ordentlich einen im Kahn.
»Was willst du?« Nun wollte er es nur noch hinter sich bringen. Wenn sie sein Leben unbedingt auf den Kopf stellen musste, dann sollte sie es tun. Er war immer ein Mann der Tat gewesen, der sich vor unangenehmen Dingen nicht drückte.
Doch anstatt ihn wegen Cecilia und dem Kind mit Vorwürfen zu überhäufen, ihn zum Teufel zu jagen und ihm anzudrohen, dass sie ihm seinen gesamten Besitz wegnehmen würde, steckte sie die Hand in die Manteltasche und zog etwas WeiÃes heraus. Fünf weiÃe Briefumschläge. Erik erkannte sie sofort.
»Bist du in meinem Arbeitszimmer gewesen? Hast du in meinem Schreibtisch gewühlt?«
»Klar. Du erzählst mir ja nichts. Nicht einmal, wenn dir jemand Drohbriefe schickt. Hältst du mich für blöd? Glaubst du, ich merke nicht, dass es so ähnliche Briefe sind wie die in den Zeitungsberichten? Wie die Briefe, die Christian bekommen hat. Und nun ist Magnus tot.« Sie schäumte vor Wut. »Warum hast du sie mir nicht gezeigt? Irgendein kranker Mensch schickt uns Drohungen, und ich habe kein Recht, davon zu erfahren? Obwohl ich den ganzen Tag vollkommen schutzlos und allein zu Hause bin.«
Erik warf Kenneth einen Blick zu. Es ärgerte ihn, dass der Kollege mitbekam, wie Louise ihn beschimpfte. Als er seinen Gesichtsausdruck sah, erstarrte er. Kenneth hatte den Blick vom Bildschirm abgewandt. Er starrte die fünf weiÃen Umschläge an, die Louise auf den Tisch geknallt hatte. Er war blass. Einen Augenblick lang sah er Erik an, dann drehte er sich wieder weg. Aber es war bereits zu spät. Erik hatte verstanden.
»Hast du auch welche bekommen?«
Als Erik die Frage stellte, zuckte Louise zusammen und sah Kenneth an. Zuerst schien er gar nicht zuzuhören, sondern sich auf eine komplizierte Excel-Tabelle über Ausgaben und Einnahmen zu konzentrieren. Aber so leicht lieà Erik ihn nicht davonkommen.
»Ich habe dich etwas gefragt, Kenneth!« Eriks Befehlston. So hatte er von klein auf mit ihm gesprochen. Und Kenneth reagierte genauso wie früher. Er gab noch immer nach, unterwarf sich Eriks Autorität und Machtstreben. Langsam drehte er sich um. Als er Erik und Louise ansah, faltete er die Hände im Schoà und antwortete leise:
»Ich habe vier bekommen. Drei mit der Post, und einer lag auf dem Küchentisch.«
Louise wurde kreidebleich. Ihr Zorn bekam neuen Zündstoff. »Was ist hier los, Erik? Christian, du und nun auch Kenneth? Was habt ihr getan? Und Magnus? Hat er ebenfalls solche Briefe bekommen?« Vorwurfsvoll blickte sie von ihrem Mann zu Kenneth und wieder zurück.
Eine Weile war es still. Kenneth blickte Erik fragend an. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Soweit ich weiÃ, nicht. Magnus hat davon nie etwas gesagt, aber das muss ja nichts bedeuten. WeiÃt du mehr?« Er richtete die Frage an Kenneth, doch der schüttelte genauso den Kopf.
»Nein. Wenn Magnus über so etwas gesprochen hätte, dann mit Christian.«
»Wann hast du den ersten bekommen?« Allmählich verarbeitete Eriks Gehirn die Information. Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, die Sache wieder in den Griff zu bekommen.
»Ich weià nicht genau. Auf jeden Fall vor Weihnachten. Also im Dezember.«
Erik griff nach den Briefen auf dem Schreibtisch. Louises Zorn war verpufft. Sie stand neben ihrem Mann und sah ihm zu, während er die Briefe nach den Poststempeln sortierte. Der erste landete ganz unten. Er nahm ihn noch einmal in die Hand und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, den Stempel zu entziffern.
»15. Dezember.«
»Das könnte zeitlich ganz gut zu meinem passen.« Kenneth starrte wieder auf den Boden.
»Hast du die Briefe aufbewahrt? Könntest du mal nachsehen, wann die, die mit der Post gekommen sind, abgestempelt wurden?«, erkundigte sich Erik mit seiner sachlichen Geschäftsstimme.
Kenneth nickte und holte tief Luft. »Als der vierte Brief auftauchte, lag eins von unseren Küchenmessern daneben.«
»Vielleicht hattest du es selbst dort hingelegt?« Louise lallte nicht mehr. Vor Entsetzen war sie wieder nüchtern und der Nebelschleier wie weggepustet.
»Nein. Ich weià genau, dass ich den Tisch abgeräumt hatte, bevor ich ins
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