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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Eriksson
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Er konnte sich nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte. Die Sichtbehinderung durch den Nebel war ähnlich groß wie bei einem Schneesturm in der Prärie, bei dem man die Hand vor den eigenen Augen nicht sah. In so etwas starben die Menschen vor ihrer eigenen Haustür, verirrten sich im Blizzard nur Zentimeter entfernt von der Sicherheit.
    Die Leute von der Rettung würden sie erst in ein paar Tagen finden, wenn sie leblos in ihren Schutzanzügen dahintrieben. Oder auch nicht. Zwei Männer wurden vermisst. Waren zuletzt gesehen worden, als sie aus Ucluelet in Richtung La Perousse Bank steuerten. Wie im Bermudadreieck. Menschen und Boote fahren hinein und kommen niemals wieder heraus.
    Vorsichtig rutschte er über die Sitzbank auf den Rand des Bootes zu. Eine Armlänge entfernt vom Seitendeck beugte er sich vor, um mit gerecktem Hals auf die Wasseroberfläche zu spähen. Der Nebel schlug auf einmal Wellen und öffnete sich wie ein Vorhang. Das Wasser schimmerte wie flüssiges Silber. Er hielt den Atem an, um die unheimliche Reinheit der Szenerie nicht zu stören, dann rutschte er etwas weiter vor, streckte die Hand über die Seite des Bootes und ließ seine Finger in dem eisigen Wasser kreisen.
    Er roch den Wal, bevor er ihn hörte, roch den überwältigenden Gestank von Salz und Meer und nassem Fleisch, der ihm die Kehle zuschnürte und ihn zurückweichen ließ in die Mitte des Bootes. Die Höhle aus Nebel füllte sich mit einem trauervollen Seufzer.
    »Buckelwal«, flüsterte Baxter.
    Das Wasser vor dem Boot wallte auf und stürzte nieder, als sich die feste, dunkle Masse erhob und wie eine gigantische Schlange über das Meer glitt. Baxter und Trevor konnten die Furchen an seinem Hals sehen, den massigen, dickhäutigen Kopf — mit einem Auge blickte er sich suchend um und beobachtete sie — , die verkümmerte Finne und die lange, geriffelte Brust. Die riesige Schwanzflosse bog sich nach oben und über die Köpfe der Männer hinweg und ließ in einem glitzernden Vorhang einen Wasserfall aus glänzenden Meerestropfen niederregnen. Dann verschwand der Gigant, ohne einen Laut zu machen.
    Trevor, die Schenkel fest gegen den elastischen Schlauch des Bootes gepresst, starrte auf den immer weiter schwindenden Wasserstrudel, dem innerhalb weniger Sekunden ein Koloss entstiegen war, um lautlos wieder darin zu versinken. Der Nebel schloss sich über der Stelle. Das Boot glitt sacht dahin. Baxter tauchte neben ihm aus dem Dunst auf und legte seine warme Hand auf Trevors Schulter.
    »Jetzt ist der richtige Moment«, sagte er.
    Die Berührung der Finger des Mannes war wie ein elektrischer Schlag. Trevor drehte sich um und blickte in Baxters Gesicht. Er wollte ihn in die Arme schließen, ihm sagen, dass er nie einen besseren Freund gehabt hatte als ihn. Er wollte über das Wunder sprechen, das gerade an ihnen vorübergeschwommen war.
    »Der richtige Moment?«
    Als Baxter auf Trevors Hand deutete, erinnerte er sich an die Asche und an die Frau, die ihn hergebracht hatte. Es war Zeit.
    Der Dunst lichtete sich, und das schwache Licht der Sonne durchdrang den Nebel mit glänzenden Strahlen. Er zog den Plastikbehälter aus der Tasche. Auf dem Deckel stand ordentlich mit tiefroter Farbe das Wort Constance geschrieben.
    »Es hätte ihr hier gefallen«, sagte er laut, doch Baxter war wieder im Nebel verschwunden.
    Trevor nahm den Deckel ab und beugte sich über die Seite des Bootes. »Es war schön, Sie gekannt zu haben, Constance. Danke... für alles.«
    Er drehte die dubiose Urne auf den Kopf. Feiner, hellbrauner Staub fiel auf die Wasseroberfläche und verteilte sich wie schwerelose Hieroglyphen auf durchsichtigem Papyrus. Trevor betrachtete die Linien und Spiralen. Er konnte aus den vergänglichen Gebilden nichts herauslesen. Das sah Constance ähnlich, ihm zum Abschied eine Nachricht zu hinterlassen, die er nicht entziffern konnte. Er tauchte den Behälter unter die Wasseroberfläche, und als er sich füllte, spürte er das Meer kalt auf seiner Haut. Mit einer drehenden Handbewegung wusch er die letzte verbliebene Asche heraus.
    Ein Wasserschwall, ein Aufschrei von Baxter, und die Dose wurde seinen Fingern entrissen. Eine schwarzweiße Finne, dann eine zweite und eine dritte wühlten das Wasser vor ihm auf. Drei Tiere schwammen im Kreis um die treibende Asche, tauchten auf und wieder ab. Sechs kluge Augen fixierten Trevor, während sie vorüberschossen und Luft und Wasser aus ihren Blaslöchern spritzten. Die Asche versank in

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