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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Eriksson
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damit beantwortet, dass er zubeißt, sich aufrappelt und davontorkelt, hinaus ins Tageslicht. Rückwärts krabbelnd befreit sie sich aus der Enge unter den Bodenbalken. Sie rennt um die Blockhütte herum zu der Stelle, an der das Tierchen zusammengebrochen ist. Sie kniet nieder und legt ihre Hand auf die Brust des kleinen Kojoten. Sein Herz schlägt schwach und rasend schnell unter ihren von der Sonne gebräunten Fingern. Mit beiden Armen hebt sie den schlaffen Körper vom Boden, formt aus dem unteren Teil ihres T-Shirts eine Schlinge und macht sich auf den Heimweg. Sie widersteht der Versuchung zu rennen. Erst als sie durch das Tor zum Hof der Farm tritt und sieht, wie ihr Bruder neben der Scheune am Motor eines Traktors bastelt, erinnert sie sich an die Beeren.

1
    Frankfurt, Winter 1985

    Constance Ebenezer stand am Fenster des Flughafengebäudes und beobachtete, wie die Düsenmaschinen starteten und landeten. Es verblüffte sie, wie diese großartigen, von Menschenhand geschaffenen Raubvögel sowohl den Gesetzen der Schwerkraft als auch denen der Logik trotzten. Draußen lag das deutsche Rollfeld, grau und trist wie der Januarhimmel, doch schwebten fette, nasse Schneeflocken zur Erde herab und machten die Kulisse nahezu schön. Die metallenen Vögel erinnerten sie an den Tag, da sie erstmals in ihrem Leben ein Flugzeug gesehen hatte, vor etwas mehr als sechzig Jahren, als sie jung gewesen war und naiv und verliebt. »Erinnerst du dich, Tommy?«, fragte sie. »An den Tag, an dem du mich überreden wolltest, mit dem Doppeldecker zu fliegen?« Damals war nicht Winter gewesen, sondern Frühling, und niemals würde sie das Feuer in seinen Augen vergessen, als sie beide in diesem Weizenfeld gestanden hatten, ein paar Meilen nördlich von Winnipeg, wo die frischen grünen Triebe sich aus der schwarzen Erde den Weg ins Licht bahnten, wo die Luft klar war und so voller Hoffnung, und wo ihre Hand in seiner lag. Mit seiner freien Hand hatte er am Himmel mit dem Finger die Flugbahn des Doppeldeckers nachgezeichnet — einer ungelenken Maschine, die am Außenrand des Feldes in Querlage flog — und ihr erklärt, wie das Ganze funktionierte. Wie die Luft von vorn über und unter die Tragflächen strömte, was das Aufsteigen möglich machte, und wie der brüchig wirkende, neumodische Apparat sie innerhalb einer halben Stunde zum Winnipegsee bringen konnte — eine Strecke, die mit dem Auto über ungepflasterte Schotterstraßen in der Regel fast einen ganzen Tag dauerte. »Da können wir uns dann die Dünen am Grand Beach ansehen und die Marsch von Grassy Narrows, vielleicht sogar das isländische Dorf in Hecla«, hatte er zu ihr gesagt. Seine Stimme hatte sich dabei überschlagen und so schrill geklungen, dass sie ihm die Hand auf die Wange legen wollte, um ihn zu beruhigen. Sie hatte versucht, sich den Ausblick von dort oben vorzustellen, den Rausch und den Wind, der ihnen in die Gesichter wehen würde, sodass das Haar hinter ihr herflatterte. Doch hatte sie der Gedanke an die schwindelerregende Höhe und die waghalsige Geschwindigkeit nur beängstigt. Jetzt bereute sie, Nein gesagt zu haben. Er war trotzdem geflogen, hatte sich die Lederjacke angezogen und die Schutzbrille aufgesetzt, die der Pilot ihm gegeben hatte, und den Mann mit einem Fünf-Dollar-Schein bezahlt — dem Lohn für eine ganze Woche Arbeit, bei der er schwere, mit Ziegelsteinen beladene Schlitten gezogen hatte. Er hatte sie voller Leidenschaft geküsst, bevor er in die Maschine geklettert war und auf dem Passagiersitz Platz genommen hatte. Hinterher hatte er monatelang über das Erlebnis geredet. »Du würdest mir das heute gar nicht glauben, Tommy«, sagte sie. »Dass ich um die ganze Welt fliege in Flugzeugen, die so groß sind, wie wir es uns damals gar nicht hätten vorstellen können.«
    Aus dem Augenwinkel heraus sah sie einen Mann und eine Frau, die sie anstarrten und dann einander anlächelten, als wüssten sie etwas über sie, was andere nicht wussten. Es kümmerte sie nicht. Sie fragte sich, ob Tommy wohl jemals mit einer Düsenmaschine geflogen war. Aber sie nahm an, dass er nie das Geld dafür gehabt hatte, so traurig dieser Gedanke auch war. Sie selbst war nie mit einem Flugzeug geflogen, bis sie im Alter von neunundfünfzig Jahren, vor nunmehr zwei Jahrzehnten, einen Air-Canada-Flug nach Vancouver Island bestiegen hatte. Statt gezielt irgend wohin zu fliegen, war sie von Donald weg-geflogen, sodass das vielleicht gar nicht richtig zählte.

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