Mehr als nur Traeume
gelesen, gesehen oder gehört hatte. Mit Honorias Hilfe erfand sie eine primitive Version von Monopoly. Sie spielten Pictionary mit Schieferblättchen. Als der Vorrat der Geschichten und Romane, die sie gelesen hatte, erschöpft war, erzählte sie wahre Begebenheiten aus Amerika, die besonders bei Lady Margaret gut ankamen.
Sie bemühte sich sehr, auf dem Unterhaltungssektor zu bleiben und nicht ins Politische oder gar Religiöse abzuschweifen. Schließlich hatte Königin Mary erst vor ein paar Jahren Leute auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen, weil sie der falschen Religionsgemeinschaft angehörten. Doch zuweilen suchte Kit von ihr zu erfahren, wie es denn in ihrem Lande um den Ackerbau und die Viehzucht bestellt sei, wovon Dougless herzlich wenig wußte. Aber sie konnte ihm ein paar Tips geben für die Kompostherstellung und wie man damit höhere Ernten erzielen könne.
Dougless wußte, daß die Hofdamen von Lady Margaret entsetzt waren über ihre mangelnde Bildung, daß sie nur eine Sprache beherrschte und nicht ein Instrument spielen konnte. Ja, sie vermochte nicht einmal ihre Schrift zu lesen, doch sie sahen ihr das zumeist nach.
Denn indem Dougless ihnen neue Spiele und Lieder beibrachte, lernte sie auch dabei. Diese Frauen standen nicht unter dem Druck, dem eine amerikanische Frau im zwanzigsten Jahrhundert ausgesetzt war, die den verschiedenartigsten Ansprüchen gerecht werden mußte. Von einer Frau im sechzehnten Jahrhundert verlangte man nicht, daß sie gleichzeitig ihren Job in einer Firma beherrschen, liebende Mutter, eine exzellente Köchin, Gastgeberin und eine kreative Liebhaberin mit der Ausdauer eines Athleten sein sollte. Wenn sie reich war, mußte sie sticken und nähen, einen Haushalt überwachen und sich amüsieren können. Natürlich hatte die elizabethanische Frau keine Lebenserwartung von mehr als vierzig Jahren, aber zumindest stand sie nicht ständig unter dem Druck, mehr zu tun und darzustellen in den wenigen Jahren ihres irdischen Daseins, als ihre Kräfte das vielleicht zuließen.
Nachdem Dougless sich schon etliche Tage im England des sechzehnten Jahrhunderts aufgehalten und sich hier einigermaßen eingelebt hatte, erinnerte sie sich wieder ihrer Zeit mit Robert. Der Wecker hatte um sechs Uhr morgens geläutet, worauf sie aus dem Bett in die Küche rannte. Sie mußte rennen, wenn sie ihr Tagespensum schaffen wollte. Da waren Mahlzeiten zu kochen, Einkäufe zu erledigen, das Haus in Ordnung zu bringen (Robert hatte nur einmal in der Woche eine Putzfrau ins Haus bestellt), mußten Küche, Töpfe und Geschirr immer wieder von neuem saubergemacht werden. Und für ihre »freie Zeit« hatte sie ebenfalls einen vollen Terminkalender. Manchmal hatte sie sich gewünscht, drei Tage hintereinander im Bett bleiben und Kriminalromane lesen zu können, aber da gab es immer viel zuviel zu tun, als daß sie auch nur an einen faulen Tag hätte denken können.
Und da kam noch dieses Schuldgefühl dazu. Wenn sie eine Ruhepause hatte, meinte sie, in ein Fitneßzentrum fahren zu müssen, um zu verhindern, daß ihre Schenkel dicker wurden oder daß sie Roberts Kollegen eine großartige Dinnerparty geben sollte. Sie hatte schon ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie abends erschöpft nach Hause geeilt war, eine Pizza aus der Tiefkühltruhe geholt und diese dann in der Mikrowelle erhitzt und serviert hatte.
Doch nun, im sechzehnten Jahrhundert, schien der Druck ihres Neuzeit-Alltags weit weg zu sein. Die Menschen lebten hier nicht allein und isoliert. Dies war kein Haus mit einer Frau, die zwanzig Aufgaben zugleich bewältigen sollte, sondern eines mit über hundertvierzig Bediensteten, die zusammen vielleicht siebzig Aufgaben zu erledigen hatten. Eine müde nach Hause kommende Frau mußte hier nicht noch waschen, putzen, kochen etcetera, etcetera und am nächsten Morgen wieder in ein Büro fahren. Hier hatte eine Person nur einen Job.
Moderne Frauen hatten ihre hausgemachten Schuldkomplexe und litten unter Streß, wohingegen die Menschen im sechzehnten Jahrhundert unter Krankheiten, der Angst vor dem Unbekannten und der Unwissenheit ihrer sogenannten Ärzte litten. Das Leben der Menschen im sechzehnten Jahrhundert war kurz, und der Tod lauerte hinter jeder Ecke. Seit Dougless hierhergekommen war, hatte es vier Todesfälle im Haus gegeben, und alle wären vermeidbar gewesen, wenn man eine Erste-Hilfe-Station im Schloß gehabt hätte. Ein Mann starb, als er unter einen umstürzenden Wagen geriet.
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