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Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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»Ich erzähle ihm nichts, wenn du auch nichts erzählst.«
    Betty funkelte sie in sprachloser Wut an.
    »Und ich erzähl es auch sonst niemand, Betty. Aber nur, wenn du abreist. Und zwar morgen.«
    »Ich kann dir nicht trauen.«
    »Und ob du das kannst. Ich war vielleicht ein unzuverlässiges Mannsbild, aber ich bin ein schrecklich nettes Frauenzimmer.«
    »Ein Teufel bist du, daß du’s genau weißt!«
    »Ich bitte dich«, sagte Mrs. Madrigal lächelnd. »Nenn mich wenigstens eine Hexe.«

Der Mann, der gar nicht da war
    Als Burke und Mary Ann die Kirche betraten, verriet das laute Klappern ihrer Schuhe auf dem Steinfußboden den wenigen Andächtigen, die in dem großen Raum verstreut saßen, ihre Anwesenheit.
    »Ich komm mir vor wie ein Touristentrampel«, flüsterte Mary Ann.
    Burke lächelte und drückte ihre Hand. »Keine Bange. Die Presbyterianerin wird dir schon niemand ansehen.«
    »Sollten wir uns nicht setzen?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du willst.«
    Sie stiegen in eine Bank neben einer eindrucksvollen Steinsäule. Links über ihnen verdunkelte sich die Technicolor-Pracht eines bunten Glasfensters. Mary Ann setzte sich und kramte ein Dynamint aus ihrer Handtasche.
    »Willst du auch eins?« fragte sie.
    Burke schüttelte den Kopf. »Bleiben wir einfach ein bißchen sitzen.«
    Mary Ann sah sich um und fragte sich beklommen, ob sie und Burke die gleichen Eindrücke aufnahmen. Die alte Frau, die zwei Reihen vor ihnen ihre Gebete aufsagte, hatte mit Hilfe einer Nadel ein rosa Taschentuch mit Blumenmuster an ihrem grauen Dutt befestigt. Auf der anderen Seite des Gangs saß ein Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift »the pines 75« trug und sich mit ausholender Geste bekreuzigte.
    Diese Leute waren keine Katholiken, rief Mary Ann sich in Erinnerung. Sie waren Episkopale, wahrscheinlich Hochkirchler, aber gewöhnliche Protestanten, die in diesen hallenden Raum gekommen waren, damit sich in ihren Mündern Wein in Blut verwandeln konnte.
    Es schauderte sie. Sie fummelte sich noch ein Dynamint raus. Dann bemühte sie sich um Burkes Aufmerksamkeit.
    »Tut sich was?« wollte sie wissen.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Erinnerst du dich überhaupt an diesen Raum?«
    »Nein, eigentlich nicht. Es erinnert sehr an St. John the Divine’s in New York.«
    »So riesig«, stellte Mary Ann geistesabwesend fest.
    Burke lugte um den Pfeiler herum. »Der Chor hat seinen Platz vermutlich vorne neben dem Altar. Vielleicht sollten wir da mal hingehen.«
    »Ähm … Warum das denn?«
    Er lächelte sie an. »Hast du Angst, Mary Ann?«
    »Nein. Ich finde bloß … Na ja, damit würden wir doch … auffallen, nicht?«
    Er nahm sie an der Hand. »Komm. Nur ganz kurz. Vielleicht erkenne ich die Einfriedung für den Chor wieder oder sonst was da vorne.«
    Also schritten sie gemeinsam den Gang entlang. Mary Ann vergaß ihre Ängstlichkeit für einen Augenblick und amüsierte sich im stillen über die Symbolik, die in diesem Vorgang lag. Ob man sich bei den Proben für eine Trauung so fühlte?
    Als sie an die Kommunionsbank kamen, blieb Burke kurz stehen und las den Spruch, der in Petit-point-Stickerei die Kniekissen zierte: WER VON DIESEM BROT ISST, WIRD EWIG LEBEN. Mary Ann zupfte Burke am Ärmel. »Siehst du«, flüsterte sie. »Transsubstantiation.«
    Er konnte seine Belustigung nicht verbergen. »Du tust, als würdest du eine Inka-Ruine besichtigen.«
    Der Organist saß in unmittelbarer Nähe der Einfriedung für den Chor. Außer ihm hielt sich sonst niemand in diesem Teil der Kathedrale auf. Mit feierlicher Geste und ohne den Blick zu heben legte er seine Notenblätter zurecht. Dann begann er zu spielen.
    Mary Ann zuckte zusammen, als die Musik durch die Kathedrale donnerte. »Vielleicht fangen sie jetzt an, Burke.«
    »Er übt nur«, klärte Burke sie auf. »Gehen wir jetzt. Es ist nicht nötig, daß ich mir die Chorempore auch noch ansehe.«
    »Wenn du sie aber noch …«
    Er schüttelte den Kopf. »Hier kommt mir nichts bekannt vor. Wenn es anders wäre, könnte ich es jetzt schon sagen.«
    Sie machten kehrt und strebten in würdiger Haltung dem Ausgang zu. Die alte Dame mit dem rosa Taschentuch blickte auf, als sie an ihrer Bank vorbeikamen. Mary Ann lächelte ihr entschuldigend zu, bevor sie himmelwärts zu der großen Fensterrose blickte. Deren Leuchtkraft war inzwischen erloschen. Sie war so schwarz wie die Nacht draußen.
    »Burke?«
    »Hmh?«
    »Laß uns heute abend irgendwas hübsches Seichtes und Unterhaltsames

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