Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr Stadtgeschichten

Mehr Stadtgeschichten

Titel: Mehr Stadtgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
Vom Netzwerk:
Papa schreiben will, wird mir klar, daß ich nicht die Dinge sage, die ich im Herzen trage. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn ich euch weniger lieben würde, als ich es tue, aber ihr seid immer noch meine Eltern, und ich bin immer noch euer Sohn.
    Ich habe Freunde, die mich für verrückt halten, weil ich euch diesen Brief schreibe. Ich hoffe, daß sie damit falsch liegen. Ich hoffe, ihre Zweifel kommen daher, daß sie Eltern haben, die sie weniger geliebt und ihnen weniger vertraut haben, als die meinen das tun. Ganz besonders hoffe ich darauf, daß ihr diesen Brief als Ausdruck meiner Liebe zu euch sehen werdet, als Zeichen meiner immerwährenden Sehnsucht, mein Leben mit euch zu teilen.
    Ich hätte euch wahrscheinlich nicht geschrieben, wenn ihr mir nicht von eurem Engagement für Save Our Children berichtet hättet. Euer Engagement hat mir mehr als alles andere vor Augen geführt, daß ich die Pflicht habe, euch die Wahrheit zu sagen. Euch zu sagen, daß euer eigenes Kind homosexuell ist und daß ich niemals vor etwas anderem beschützt werden mußte als vor der grausamen und ignoranten Frömmlerei von Leuten wie Anita Bryant.
    Es tut mir leid, Mama. Nicht, daß ich so bin, wie ich bin, sondern daß ich dich den Gefühlen aussetzen muß, die du jetzt wohl gerade hast. Ich kenne diese Gefühle, denn ich hatte sie fast mein ganzes Leben lang. Abscheu, Scham, Ungläubigkeit – Ablehnung aus Angst vor etwas, von dem ich sogar als Kind schon wußte, daß es genauso unveränderlich zu meiner Natur gehört wie die Farbe meiner Augen.
    Nein, Mama, ich bin nicht »angeworben« worden. Kein gereifter Homosexueller hat sich als mein Mentor betätigt. Aber, weißt du was? Es wäre schön gewesen, hätte es einer getan. Es wäre schön gewesen, hätte mich einer, der älter war als ich und verständiger als die Leute in Orlando, zur Seite genommen und mir gesagt: »Du bist völlig in Ordnung, Junge. Wenn du mal groß bist, kannst du genauso Arzt oder Lehrer werden wie alle anderen. Du bist weder verrückt noch krank und auch nicht verdorben. Du kannst Erfolg haben und glücklich werden und deinen Frieden finden bei Freunden, das heißt, bei allen möglichen Freunden und Freundinnen, die sich einen Dreck darum kümmern, mit wem du ins Bett steigst. Was aber das Wichtigste ist: Du kannst lieben und geliebt werden, ohne dich dafür zu hassen.«
    Aber niemand hat das je zu mir gesagt, Mama. Das mußte ich selber herausfinden, und mit Hilfe der Stadt, die mein Zuhause geworden ist. Ich weiß, daß es euch schwerfallen wird, das zu glauben, aber in San Francisco gibt es Unmengen von Männern und Frauen – und zwar sowohl Heteros als auch Homos –, die überhaupt nicht an die Sexualität denken, wenn es darum geht, den Wert eines Menschen zu bestimmen.
    Das sind alles keine Radikalen oder Verrückten, Mama. Es sind Verkäuferinnen und Bankangestellte und kleine alte Damen und Leute, die einem zunicken und einen anlächeln, wenn man ihnen im Bus begegnet. Sie behandeln dich weder herablassend noch mitleidig. Und ihre Botschaft ist so einfach: Ja, du bist eine Persönlichkeit. Ja, ich mag dich. Ja, es ist völlig in Ordnung, wenn du mich auch magst.
    Ich weiß, was euch jetzt durch den Kopf gehen muß. Ihr fragt euch: Was haben wir falsch gemacht? Wie haben wir es dazu kommen lassen? Wer von uns beiden hat ihn so werden lassen?
    Darauf kann ich euch keine Antwort geben, Mama. Und ich glaube, daß mir diese Fragen eigentlich auch nichts bedeuten. Aber eines weiß ich genau: Wenn du und Papa mich so habt werden lassen, wie ich bin, dann danke ich euch von ganzem Herzen, denn mein Wesen ist das Licht und die Freude meines Lebens.
    Ich weiß, daß ich euch nicht verständlich machen kann, was es heißt, schwul zu sein. Aber ich kann euch sagen, was es nicht heißt.
    Es heißt nicht, sich hinter Wörtern zu verstecken, Mama. Hinter Familie zum Beispiel oder Anständigkeit oder Christentum. Es heißt nicht, seinen eigenen Körper zu fürchten oder die Vergnügungen, die Gott dafür vorgesehen hat. Es heißt nicht, seinen Nachbarn zu verurteilen, es sei denn, er ist grob oder rücksichtslos.
    Das Schwulsein hat mich gelehrt, tolerant, mitfühlend und bescheiden zu sein. Es hat mir die unbegrenzten Möglichkeiten des Lebens aufgezeigt. Es hat mir Leute zugeführt, die mir mit ihrer Leidenschaft, Zuneigung und Sensibilität zu einem immerwährenden Quell der Kraft geworden sind.
    Es hat mich in die Menschenfamilie eingeführt, Mama, und

Weitere Kostenlose Bücher