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weiter.«
Mary Ann sah Jon an. Der zuckte bloß mit den Schultern.
»Ich habe mich mein halbes Leben damit herumgeschlagen«, sagte Michael. »Da kommt es auf einen Tag mehr auch nicht an.«
Also fuhr Mary Ann fort:
… und außerdem sieht der Herr dann deutlich, auf welcher Seite wir stehen.
Erinnerst Du Dich noch, daß ich Dir in meinem letzten Brief erzählt habe, daß wir in unserer Resolution nichts gesagt haben über das Vermieten an Homosexuelle, weil Lucy McNeil das Zimmer über ihrer Garage an diesen tuckigen Mann vermietet hat, der in der Dixie Dell Mall Teppiche verkauft? Ich habe das ganz in Ordnung gefunden, weil Lucy eine von der stillen Sorte ist und mit dem Magen Schwierigkeiten hat, und da habe ich gedacht, daß es nicht christlich sein würde, sie unnötig aufzuregen.
Ich glaube, daß der Mann recht gehabt hat, der mal gesagt hat, daß der Weg in die Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, denn Lucy ist aus heiterem Himmel richtig militant geworden wegen der Homosexuellen. Sie hat gesagt, daß sie unsere Resolution für Save Our Children nicht unterschreiben will, und sie hat uns alle Barbaren und Heuchler genannt und gesagt, daß Jesus nicht mal zulassen würde, daß wir seine Füße küssen, wenn er heute auf die Erde zurückkommen würde. Kannst Du Dir so was vorstellen?
Nach dem Treffen war ich richtig wütend wegen der ganzen Sache, bis mir Dein Papa dann alles erklärt hat. Weißt Du, ich habe ja nie viel darüber nachgedacht, aber Lucy hat nun mal nie geheiratet, und dabei ist sie wirklich hübsch gewesen, als sie und ich damals auf die Orlando High gegangen sind. Sie hätt einen richtig guten Ehemann kriegen können, wenn sie sich mehr drum gekümmert hätte. Jedenfalls hat mich dein Papa mit der Nase drauf gestoßen, daß Lucy seit neuestem beim YWCA Kurse in moderner Kunst besucht und Indianerhemden und Hippiekleider anhat, so daß ich es für möglich halte, daß die Lesbischen sie vielleicht angeworben haben. Trotzdem ist das furchtbar schwer zu glauben. Sie war immer so hübsch.
Etta Norris hat vergangenen Samstag am Abend bei ihr zu Hause ein zwangloses Treffen von Save Our Children gegeben. Es war richtig nett dort. Lolly Newton hat sogar einen Red-Devil’s-Food-Kuchen mitgebracht, den sie nach dem Rezept von Mrs. Oral Roberts gemacht hat. Und die hat das Rezept wieder aus dem Kochbuch von Anita Bryant genommen. Das hat uns auf die Idee gebracht, ganz viele Rezepte aus dem Kochbuch nachzumachen und die Sachen dann beim Wohltätigkeitsbasar der Veterans of Foreign Wars zu verkaufen, damit wir für Save Our Children Geld zusammenbringen.
Wir beten alle dafür, daß das Referendum in Miami durchgeht. Wenn es den Homosexuellen in Miami erlaubt wird, daß sie dort als Lehrer arbeiten, dann könnte das in Orlando auch passieren. Reverend Harker sagt, daß es in Miami so schlimm geworden ist, daß sich die Homosexuellen in aller Öffentlichkeit küssen. Dein Papa sagt, daß er das nicht glaubt, aber ich sage, daß der Teufel viel mächtiger ist, als wir glauben.
Mikey, wir haben Blackie einschläfern müssen. Ich sage Dir das nur furchtbar ungern, aber er war schon sehr, sehr alt. Ich weiß, daß der Herr für ihn sorgen wird, wie er für alle seine Wesen sorgt.
Bubba läßt Dich grüßen.
In Liebe,
Mama
Mary Ann stellte sich neben Michaels Bett und wandte sich ohne den Umweg über den Spiegel direkt an ihn. »Mouse … Es tut mir wirklich leid.«
»Vergiß es. Ich finde es zum Schreien komisch.«
»Nein. Es ist furchtbar. Sie weiß nicht, was sie sagt, Mouse.«
Michael lächelte. »Und ob sie das weiß. Sie ist eine eingefleischte Christin. Solche Leute wissen immer, was sie sagen.«
»Aber sie würde das niemals sagen, Mouse. Nicht, wenn sie es wüßte. Schon gar nicht über ihren eigenen Sohn.«
»Sie würde es über den Sohn von jemand anderem sagen. Kannst du mir erklären, wo da der Unterschied sein soll?«
Als Mary Ann sich zu Jon und Burke umdrehte, liefen ihr Tränen über das Gesicht. Dann streckte sie die Hand aus und berührte die bewegungslos daliegende Gestalt in dem Bett.
»Mouse … wenn ich etwas tun könnte, um in deinem Leben etwas zu verändern, glaub mir, ich würde …«
»Du kannst etwas tun, Babycakes.«
»Was? Wie?«
»Hast du deinen Bic griffbereit?«
»Klar.«
»Na dann: Zum Diktat, Miss Singleton!«
Ein Brief an Mama
Liebe Mama,
es tut mir leid, daß es mit meinem Brief so lange gedauert hat. Jedesmal, wenn ich dir und
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