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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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und in den nächsten sechs Jahren dann noch einmal um ein Drittel auf 658 Milliarden. Doch was bislang absolut wunderbar gewesen war, wurde nun eigenartig unbefriedigend. Die Menschen entdeckten, dass man in der Welt fröhlichen Konsums immer weniger zurückbekam.
    Als die 1950er Jahre zu Ende gingen, hatten die meisten Menschen – jedenfalls die meisten Menschen der Mittelklasse – so gut wie alles, was sie sich je erträumt hatten; sie konnten also in wachsendem Maße mit ihrem Geld kaum noch etwas anderes tun, als mehr und größere Versionen der Dinge zu kaufen, die sie eigentlich nicht brauchten: Zweitwagen, Rasentraktoren, überdimensionale Kühlschränke, Stereoanlagen mit größeren Lautsprechern und noch mehr Knöpfen zum dran Herumdrehen, zusätzliche Telefone und Fernseher, Hausanschlüsse, Gasgrills, Küchengeräte, Schneefräsen, was das Herz begehrt. Mehr Dinge zu besitzen bedeutete auch, dass das Leben komplizierter und die laufenden Kosten höher wurden, man sich um mehr Dinge kümmern und mehr Dinge sauber machen musste und mehr Dinge kaputtgingen. Zunehmend wurden die Frauen berufstätig, um das ganze Unternehmen am Laufen zu halten und Millionen Menschen waren bald in einer Spirale gefangen, in der sie immer mehr arbeiteten, um arbeitssparende Dinge zu kaufen, die sie nicht gebraucht hätten, wenn sie nicht so viel gearbeitet hätten.
    Zu Beginn der 1960er Jahre produzierte der Durchschnittsamerikaner doppelt so viel wie 15 Jahre zuvor. Zumindest theoretisch hätten es sich die Menschen jetzt leisten können, nur vier Stunden am Tag oder zweieinhalb Tage die Woche oder sechs Monate im Jahr zu arbeiten und dabei den Lebensstandard zu halten, der dem von 1950 entsprochen hätte, als das Leben schon ganz schön schön war – und in puncto Stress und Hektik und allem möglichen Druck unbestreitbar und in vieler Hinsicht viel schöner. Aber – und das war in den Industrieländern fast einmalig – die US-Amerikaner nutzten die Produktivitätszuwächse nicht als Möglichkeit zu zusätzlicher Freizeit, sondern beschlossen, zu arbeiten und zu kaufen und immer mehr zu besitzen.
    Natürlich hatten nicht alle den gleichen Anteil an den guten Zeiten. Schwarze Menschen, die ihr Los zu verbessern trachteten, waren besonders im tiefen Süden und ganz besonders im Bundesstaat Mississippi oft den empörendsten, entsetzlichsten Diskriminierungen ausgesetzt. (Noch schlimmer deshalb, weil die meisten Menschen damals nicht im Mindesten darüber entsetzt oder empört waren.) Clyde Kennard, Exunteroffizier der US-Armee, Fallschirmjäger und ein Mensch mit rundum untadeligem Charakter, versuchte 1955, sich am Mississippi Southern College in Hattiesburg einzuschreiben. Er wurde abgewiesen, besann sich aber, kam zurück und bat noch einmal um Zulassung. Wegen dieses wiederholten, vorsätzlich anmaßenden Benehmens legten ihm Universitätsangestellte – und das möchte ich ganz klar sagen: keine Studenten, keine ungebildeten Ku-Klux-Klan-Leute in weißen Betttüchern, sondern Universitätsangestellte! – verbotenen Alkohol und eine Tüte gestohlenes Hühnerfutter ins Auto und sorgten dafür, dass er wegen schweren Diebstahls angeklagt wurde. Kennard kam vor Gericht und wurde für Verbrechen, die er nicht begangen hatte, für sieben Jahre ins Gefängnis gesperrt. Dort starb er, bevor er seine Strafe abgesessen hatte.
    Ebenfalls in Mississippi versuchten Reverend George Lee und ein Mann mit Namen Lamar Smith unabhängig voneinander ihr Wahlrecht auszuüben. Smith gelang es sogar, seinen Wahlzettel einzuwerfen – das schon ein kleines Wunder –, doch als er fünf Minuten später mit einem gefährlich triumphierenden Lächeln aus dem Wahllokal trat, wurde er noch auf der Treppe erschossen. Obwohl der Mord am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit verübt wurde, fand sich kein Zeuge, und es wurde nie ein Täter vor Gericht gestellt. Im Gegensatz zu Lamar Smith wurde Reverend Lee gar nicht in sein Wahllokal gelassen, jedoch mit einem Gewehr aus einem fahrenden Auto erschossen, als er abends nach Hause fuhr. Der Sheriff in Humphreys County erklärte den Todesfall zum Verkehrsunfall, der staatliche Untersuchungsbeamte verzeichnete die Ursache als unbekannt. Auch in dem Fall wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.
    Aber das Allerentsetzlichste passierte in Money, Mississippi, wo ein junger unbesonnener Besucher aus Chicago namens Emmett Till vor einem Dorfladen einer weißen Frau hinterherpfiff. Abends wurde Till von

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