Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
allererste Wahl war, doch als guter Freund begleitete ich ihn und bekam dadurch einen gewissen kosmopolitischen Schliff. Nach dem Kino spendierte er uns ein Taxi – für mich ein Beförderungsmittel von unglaublicher Pracht und Eleganz – zu Noah’s Ark, einem allseits geschätzten italienischen Speiselokal auf der Ingersoll Avenue. Dort machte er mich mit Spaghetti bolognese, Knoblauchbrot und anderen gängigen Gerichten der feineren Küche bekannt. Zum ersten Mal benutzte ich Leinenservietten und saß vor einer Speisekarte, die weder laminiert noch klebrig war und auch keine Fotos der Speisen darauf hatte.
Jed konnte durch Reden alles erreichen. Oft gingen wir los und schauten in die Fenster von Häusern reicher Leute. Manchmal klingelte er an der Haustür.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er, wenn die Dame des Hauses erschien, »aber ich habe gerade Ihre Wohnzimmergardinen bewundert, und ich muss Sie einfach fragen, wo Sie den Velourssamt herhaben. Er ist wunder schön.«
Und ehe wir uns versahen, waren wir im Haus und wurden auf eine Besichtigungstour mitgenommen. Jed bewunderte gurrend die genialen Verschönerungen, die die Besitzerin bereits vorgenommen hatte, und schlug seinerseits bescheiden zusätzliche Feinheiten vor, die alles noch schöner machen würden. Auf diese Weise wurden wir in den besten Häusern willkommen geheißen. Besonders freundschaftliche Bande knüpfte Jed mit einem schon betagteren Philanthropen namens A. H. Blank, dem Stifter des Blank Children’s Hospital, der mit seiner tattrigen, blauhaarigen Gattin in einer Dachterrassenwohnung in der nobelsten, angesagtesten Gegend Iowas wohnte, einem Gebäude namens The Towers auf der Grand Avenue. Mr. und Mrs. Blank gehörte der gesamte zehnte Stock. Es sei die höchstgelegene Wohnung zwischen Chicago und Denver oder zumindest zwischen Grinnell und Council Bluffs, erzählten sie uns. Freitagabends gingen wir oft auf einen Kakao und ein Stück Mokkatorte bei ihnen vorbei und genossen von den weiträumigen Balkonen den Blick auf die Stadt – ja, eigentlich auf den ganzen Mittleren Westen. Es war in jeder Hinsicht der Höhepunkt so mancher Woche. Ich wartete jahrelang, dass Mr. Blank das Zeitliche segnete und mir etwas hinterließ, doch es ging alles an wohltätige Einrichtungen. Als wir eines Samstags nach dem Kino ( Mitternachtsspitzen mit Doris Day, den wir umgehend als passabel, aber keineswegs als ihren besten Film beurteilten) über die High Street nach Hause gingen – ein ungewöhnlicher Weg, ein Weg für Leute, die auf Abenteuer aus sind –, kamen wir an einem kleinen Backsteinhaus mit einem Schild vorbei, auf dem stand »Mid-America Film Distribution« oder etwas Ähnliches, und Jed schlug vor, wir sollten mal hineingehen.
Drinnen saß ein kleiner, älterer Mann in einem lebhaft gemusterten Anzug an einem Tisch und tat nichts.
»Hallo«, sagte Jed, »ich hoffe, ich störe nicht, aber haben Sie alte Filmplakate, die Sie nicht mehr brauchen?«
»Ihr geht gern ins Kino?«, sagte der Mann.
»Gern ins Kino, Sir? Ich liebe es!«
»Im Ernst?«, sagte der Mann und freute sich wie ein Honigkuchenpferd. »Toll, wirklich toll. Sag mir, mein Sohn, was ist dein Lieblingsfilm?«
»Ich glaube, Alles über Eva .«
»Wenn du den magst …«, sagte der Mann. »Dann habe ich das Plakat hier irgendwo. Einen Moment, bitte.« Er nahm uns mit in einen Lagerraum, der vom Boden bis zur Decke mit zusammengerollten Filmplakaten vollgestapelt war, und fing an, darin herumzusuchen. »Hier irgendwo ist es. Welche Filme magst du sonst?«
»Herrjechen«, sagte Jed. »Boulevard der Dämmerung, Rebecca, Die große Liebe meines Lebens, In den Fesseln von Shangri-La, Geisterkomödie, Ehekrieg, Mrs. Miniver, Solange ein Herz schlägt, Die Nacht vor der Hochzeit, Der Mann, der zum Essen kam, Reise aus der Vergangenheit, Ein Baum wächst in Brooklyn, Der Gefangene des Ku-Klux-Klan, Picknick im Pyjama, Dieses Mädchen ist für alle, Asphaltdschungel, Das verflixte 7. Jahr, From This Day Forward und Schlagende Wetter , wenn auch nicht unbedingt in der Reihenfolge.«
»Die habe ich!«, sagte der Mann aufgeregt. »Die habe ich alle.« Hektisch begann er, Jed Plakate auszuhändigen. Dann wandte er sich an mich. »Was ist mit dir?«, fragte er höflich.
»The Brain That Wouldn’t Die «, erwiderte ich hoffnungsfroh.
Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Mit B-Filmen befasse ich mich nicht«, sagte er.
»Zombies on Broadway?«
Er
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