Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
aber auch die ganze Nacht hierbleiben«, bemerkte ich. »Und für dich ist es genauso langweilig.«
»Mir egal«, erwiderte er, stets auf Zack, und schwieg eine ganze Weile, bevor er hinzufügte: »Außerdem kann ich es.« Und dann verwöhnte er mich mit dem Hängende-Spucke-Trick. Derjenige, der oben ist, schiebt langsam einen Spuckeklumpen heraus und lässt ihn, leise zitternd, an einem Faden herunterhängen. Ergibt sich das Opfer, saugt er ihn wieder ein, sonst nicht. Manchmal lässt er ihn aber auch versehentlich fallen. Diesmal war es nicht mal Spucke – zumindest sah es nicht wie menschliche Spucke aus. Eher wie etwas, das ein Rieseninsekt auf seine Vorderbeinchen herauswürgt und mit dem es seine Fühler einschmiert. Es war moosgrün mit kleinen roten Blutstreifen, und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, stachen an den Seiten zwei sehr kleine graue Federn heraus. Es war so groß und glänzend, dass ich mein Spiegelbild darin sehen konnte, das verzerrt war wie in einer Zeichnung von M.C. Escher. Ich wusste, wenn auch nur ein Teil des Klumpens mein Gesicht berührte, würde es heiß zischen und eine entstellende Narbe hinterlassen.
Doch Buddy Butters saugte den Schnodderklumpen wieder ein und stieg von mir herunter. »Na, ich hoffe, dass dir das eine Lehre ist, du kleines Stinktier, Möse, Nutte, Waschlappen«, sagte er.
Zwei Tage später begannen die alles durchdringenden Frühjahrsregenfälle, die die Butters auf ihre Teerpappendächer trieben, von wo sie Mann für Mann in kleinen Booten gerettet wurden. 1000 Kinder standen schadenfroh an der Uferböschung und jubelten.
Was keiner wusste: Die Sturmwolken, die die erfrischenden Regengüsse mitbrachten, waren von dem mächtigen Röntgenblick des bescheidenen Superhelden der Prärie über den Himmel geführt worden, dem kleinen, aber unauffälligen Thunderbolt Kid.
III
Geburt eines Superhelden
East Hampton, Conn. (AP) – Die Suche nach einem als ertrunken gemeldeten Opfer im Pocotopaugsee am Dienstag wurde abgebrochen, als man merkte, dass einer der Freiwilligen, die bei der Suche halfen, Robert Hausman, 23, aus East Hampton, die gesuchte Person war.
Des Moines Register , 20. September 1957
Bild 9
Z u allen Gerichten, die meine Mutter während meiner gesamten Kindheit und Jugend (und bestimmt auch noch lange danach) zubereitete, häufte sie stets einen großen Klacks Hüttenkäse auf die Teller. Offenbar fand sie es wichtig, bei jeder Mahlzeit etwas Geronnenes, eher Dünnflüssiges aufzutischen. Ich allerdings würde untertreiben, wenn ich sagte, ich möge keinen Hüttenkäse. Ich finde, Hüttenkäse sieht aus wie etwas, das man ausspuckt, nicht wie etwas, was man zu sich nimmt. Und das war natürlich mein Problem mit diesem Nahrungsmittel.
Ich hatte einen entfernten Onkel namens Dee, der, wenn ich es jetzt recht bedenke, vielleicht gar kein Onkel war, sondern nur ein Fremder, der bei großen Familientreffen auftauchte. Jedenfalls hatte er durch eine Verletzung in seiner Jugend oder einen Operationsfehler oder aus sonst einem Grund seinen Kehlkopf verloren und ein bleibendes Loch in der Kehle. Also, eigentlich weiß ich nicht, warum er ein Loch im Hals hatte. Er hatte es eben. In den Fünfzigern hatten eine Menge Menschen auf dem Lande in Iowa interessante körperliche Besonderheiten – Holzbeine, Armstümpfe, auffallend eingedellte Köpfe, Hände ohne Finger, Münder ohne Zungen, Augenhöhlen ohne Augen, meterlange Narben, die manchmal in den einen Ärmel hineinliefen und aus dem anderen wieder herauskamen. Weiß der Himmel, was die Leute damals alles so anstellten, aber dass ihnen so manches Malheur passierte, ist sicher.
Onkel Dee jedenfalls hatte ein Loch im Hals, das er nur mit einem quadratischen Stück Baumwollgaze bedeckte. Die Gaze ging oft ab, vor allem, wenn Dee sich – wie eigentlich stets – leidenschaftlich über etwas erregte, und dann hing sie entweder lose herunter oder fiel ganz ab. In beiden Fällen konnte man das Loch sehen, pechschwarz und faszinierend und ungefähr so groß wie ein Vierteldollar. Dee redete durch das Loch in seinem Hals – das heißt, er rülpste so etwas wie Worte hindurch. Alle waren der Meinung, dass er es sehr gut konnte – an Lautstärke und Stetigkeit des Ausstoßes war er ein wahres Wunder; viele erinnerte er an einen mit Volldampf laufenden Außenbordmotor. In Wirklichkeit aber hatte keiner die leiseste Ahnung, worüber er sprach, was bedauerlich war, da Dee fuchsteufelsmitteilsam war.
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