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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Begeistert rülpste er vor sich hin, während die Leute, die neben ihm standen (fast immer Neulinge im Familienkreis, muss man sagen), sein Loch in der Kehle tapfer, aber unsicher beobachteten. Von Zeit zu Zeit sagten sie »Ach, wirklich?« und »Na, so was«, nickten ein paarmal ernst und nachdenklich und sagten dann: »Hm, ich glaube, ich hole mir noch einen Schluck Limonade.« Mit diesen Worten schlenderten sie davon und Dee rülpste wütend hinter ihnen her.
    All das war nicht schlimm – oder nicht besonders schlimm –, solange Onkel Dee nicht aß. Wenn er aß, wollte man sich eigentlich nicht einmal im selben Land wie er aufhalten, denn er redete sozusagen aus voller Kehle. Alles, was er aß, kam in einem feinen Sprühregen aus dem Loch in seinem Hals. Es war, als speise man mit einem Miniaturreißwolf oder vielleicht einer sehr kleinen Schneefräse. Ich habe erlebt, wie friedliche, erwachsene Menschen, gute Christenmenschen, liebende Schwestern, Söhne und Väter und bei einer denkwürdigen Gelegenheit sogar zwei protestantische Pfarrer aus Nachbargemeinden, schweigend und ingrimmig lang anhaltende Kämpfe ausfochten, um einen Stuhl zu bekommen, der es ihnen ersparte, beim Mittagessen neben oder, schlimmer, gegenüber von Dee zu sitzen.
    Eigentümlich bei Dees Gebrechen war (und es fesselte meine Aufmerksamkeit ganz besonders), dass, einerlei, was er sich oben in den Mund steckte – Schokoladensahnetorte, paniertes Schnitzel, gebackene Bohnen, Spinat, Steckrüben, Wackelpeter –, dass daraus Hüttenkäse geworden war, wenn es durch das Loch in seinem Hals spritzte. Ich weiß nicht, wie, aber es war so.
    Ja, und das war natürlich genau der Grund, warum ich Hüttenkäse nicht abkonnte. Was meine Mutter nie begriffen hat. Doch sie war ja hinsichtlich der meisten Dinge ohnehin überwältigend, liebenswürdig vergesslich. Wir machten uns oft einen Spaß daraus, sie aufzufordern, unsere Geburtsdaten zu nennen, oder wenn das zu anspruchsvoll war, die Jahreszeiten. Man konnte sich auch nicht darauf verlassen, dass sie unseren zweiten Vornamen kannte. Im Supermarkt erreichte sie oft die Kasse und entdeckte, dass sie sich an einer nicht mehr zu eruierenden Stelle den Einkaufswagen von jemand anderem angeeignet hatte und nun im Besitz von Waren war – ganzen Ananas, Zäpfchen, Tütenfutter für einen sehr großen Hund –, die sie weder kaufen noch haben wollte. Sie wusste selten genau, welche Kleider zu wem gehörten. Und hatte nicht die leiseste Idee, was wir gern aßen.
    »Mom«, sagte ich jeden Abend und legte eine Scheibe Brot auf den ärgerlichen Berg auf meinem Teller (eigentlich so, wie man ein Straßenverkehrsopfer mit einer Decke zudeckt), »du weißt doch, dass ich nichts so hasse wie Hüttenkäse.«
    »Ach ja, Liebling?«, sagte sie verständnisvoll, aber perplex. »Warum?«
    »Er sieht aus wie das Zeugs, das aus Onkel Dees Hals kommt.«
    Alle Anwesenden, einschließlich meines Vaters, nickten ernst.
    »Na, dann iss nur ein bisschen und lass das, was du nicht magst, auf dem Teller.«
    »Ich mag gar nichts davon, Mom, und nicht etwa einen Teil davon ja und den anderen nicht. Und Mom, diese Unterhaltung führen wir jeden Abend.«
    »Ich wette, du hast nicht einmal probiert.«
    »Ich habe auch noch nie Taubendreck probiert. Ich habe noch nie Ohrenschmalz probiert. Manche Sachen muss man nicht probieren. Auch darüber reden wir jeden Abend.«
    Erneut feierlich ernstes Nicken ringsum.
    »Also, ich hatte ja keine Ahnung, dass du keinen Hüttenkäse magst«, sagte meine Mutter zum Schluss höchst erstaunt und am nächsten Abend lag der Hüttenkäse wieder auf dem Teller.
    Ganz gelegentlich einmal machte sich ihre Vergesslichkeit auf doch eher heiklem Terrain bemerkbar, besonders wenn sie unter Zeitdruck stand. Ich erinnere mich an einen besonders hektischen, chaotischen Morgen, als ich noch ziemlich klein war – jedenfalls so klein, dass ich meist vertrauensselig und immer dumm war – und sie mich in den Caprihosen meiner Schwester zur Schule schickte. Sie waren leuchtend lindgrün, sehr eng, hatten unten kleine Schlitze und reichten mir ungefähr drei Viertel über die Waden. Verwirrt, ungläubig starrte ich mich im Spiegel hinten im Flur an. Ich sah aus wie Barbara Stanwyck in Frau ohne Gewissen .
    »Hier stimmt was nicht, Mom«, sagte ich. »Das sind Bettys alte Caprihosen, oder nicht?«
    »Nein, Süßer«, beruhigte meine Mutter mich. »Es sind Piraten hosen. Sie sind sehr modern. Ich glaube, Kookie

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