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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Byrnes trägt sie in 77 Sunset Strip .«
    Kookie Byrnes, der stets superfrisierte Star in der beliebten wöchentlichen Fernsehserie, war einer meiner Helden, ja, der meisten Leute, die interessante Frisuren mochten, und es stimmte, dass er oft liebenswert seltsame Dinge tat. Deshalb hieß er ja Kookie: ganz schön durchgeknallt. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
    »Das glaube ich nicht, Mom. Das sind nämlich Mädchenhosen.«
    »Doch, Süßer.«
    »Schwörst du das bei Gott?«
    »Hmm«, sagte sie zerstreut. »Guck es dir diese Woche an. Ich bin überzeugt, er trägt solche.«
    »Aber schwörst du es bei Gott?«
    »Hmmm«, sagte sie noch einmal.
    Ich trug also die Hosen zur Schule, und das Gelächter war meilenweit zu hören. Und zwar fast den ganzen Tag. Die Rektorin, Mrs. Unnatürlich Enormer Busen, die normalerweise den Hintern nicht mal hochkriegte, wenn der Stuhl in Flammen stand, kam extra vorbei, um mich anzuschauen, und sie lachte so laut, dass ihr ein Knopf an der Bluse abplatzte.
    Kookie Byrnes hat natürlich nie etwas auch nur entfernt Ähnliches wie Caprihosen getragen. Nach der Schule fragte ich meine Schwester. »Machst du Witze?«, sagte sie. »Kookie ist doch nicht schwul.«

    Man konnte meiner Mutter ihre Vergesslichkeit unmöglich lange vorwerfen, so offensichtlich und hoffnungslos pathologisch war sie, eine Laune ihrer Natur. Da hätten wir uns auch über sie ärgern können, weil sie eine Vorliebe für Tupfen und zweifarbige Schuhe hatte. So war sie eben. Außerdem machte sie es auf tausenderlei Weise wett – sie war liebevoll und freundlich, geduldig und großzügig, entschuldigte sich sofort und aufrichtig für alles, was sie falsch gemacht hatte, und wollte es sofort wiedergutmachen. Alle Welt liebte meine Mutter heiß und innig. Boshaftigkeit und Argwohn waren ihr vollkommen fremd. Sie wurde nie laut oder schlug einem eine Bitte ab, sagte nie ein böses Wort gegen jemanden. Sie mochte alle ihre Mitmenschen. Ihr Leben lang schmierte sie Butterbrote. Sie wollte, dass alle glücklich waren. Und sie ging fast jede Woche mit mir zum Essen und ins Kino. Das war das, was wir beide gemeinsam taten.
    Da mein Vater wegen seiner Arbeit an fast allen Wochenenden weg war, sagte meine Mutter praktisch so sicher wie das Amen in der Kirche jeden Freitag zu mir: »Was hältst du davon, wenn wir heute Abend bei Bishop’s essen und uns danach einen Film ansehen?«, als sei das ein seltenes Vergnügen. Dabei gönnten wir es uns in Wirklichkeit regelmäßig.
    Wenn freitags die Schule aus war, lief ich schnell nach Hause, warf meine Bücher auf den Küchentisch, schnappte mir eine Handvoll Kekse und begab mich ins Stadtzentrum. Manchmal nahm ich einen Bus, doch häufiger sparte ich das Geld und ging zu Fuß. Es waren nur ein paar Kilometer, die von Anfang bis Ende unterhaltsam und angenehm waren, wenn ich über die Grand Avenue lief (über die die Busse nicht fuhren; sie waren auf die Ingersoll verbannt – den Lieferanteneingang in der Welt der Straßen). Ich mochte die Grand sehr. Damals war sie von der Innenstadt bis zu den westlichen Vororten von turmhohen, ineinander verschlungenen Ulmen gesäumt, den absolut schönsten Straßenbäumen und großzügigen Spendern goldender Blätter, durch die man im Herbst wunderbar schlurfen konnte. Mehr noch, die Grand hatte eine Atmosphäre, wie es sich für eine Straße gehört. Ihre Bürogebäude und Mietshäuser waren dicht an die Bürgersteige gebaut, was der Straße etwas Nachbarschaftliches verlieh, und es standen immer noch die meisten der alten Privathäuser – die prächtigsten Villen, fast alle mit Türmchen und Erkern und Veranden wie Schiffsdecks –, obwohl diese mittlerweile überwiegend als Büros, Bestattungsunternehmen und dergleichen eine neue Verwendung gefunden hatten. In wohlüberlegten Abständen waren einige noblere öffentliche und kommerzielle Gebäude an der Grand verteilt worden: Granitkirchen, ein katholisches Mädchengymnasium, das majestätische Commodore Hotel (mit markisenüberdachtem Gang zur Straße – ein willkommener Hauch von Manhattan), ein gespenstisches Waisenhaus, wo niemals Kinder spielten oder am Fenster standen, sowie die offizielle Residenz des Gouverneurs, eine bescheidene Villa mit einer weißen Fahnenstange und der Flagge von Iowa. Alle hatten schöne Proportionen, standen an der richtigen Stelle und wirkten sorgfältig gepflegt und proper. Die Straße war perfekt.
    Dort, wo sie keine Wohnstraße mehr

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