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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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war und in die Innenstadt führte, bei dem massigen Firmengebäude von Meredith Publishing (Sitz von Better Homes and Gardens ), machte die Grand jäh eine scharfe Kurve nach links, als erinnere sie sich plötzlich einer wichtigen Verabredung. Ursprünglich sollte sie von dieser Stelle aus durchs Stadtzentrum führen, wie eine Art Champs Elysées des Mittleren Westens auf die Treppe des Parlamentsgebäudes zu. Man sollte, wenn man über die Grand Avenue ging, vor sich, exakt in der Mitte, das mit einer goldenen Kuppel versehene, prächtige Capitol erblicken (und es ist wirklich ein tolles Gebäude, eines der schönsten im Lande).
    Doch als die Straße irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt wurde, regnete es eines Nachts ganz fürchterlich, und die Stangen der Vermesser verrutschten – jedenfalls hat man uns das immer erzählt –, und die Straße wich vom korrekten Verlauf ab, so dass das Capitol seltsam seitlich von der Mitte liegt und heute aussieht, als sei es erwischt worden, als es gerade weglaufen wollte. Eine Besonderheit, die manche Leute wunderbar finden und andere lieber nicht erwähnen. Ich jedenfalls wurde es nicht müde, vom Westen her in die Stadt zu schlendern und einen Anblick zu genießen, der so herrlich nicht ganz korrekt war, so reizend daneben. Und ich überlegte dabei stets, wie ganze Trupps von Männern eine wichtige Straße bauen konnten, ohne offensichtlich einmal aufzuschauen und sich zu vergewissern, ob sie die vorgesehene Richtung beibehielten.
    Die ersten Straßen der Innenstadt von Des Moines machten einen leicht, aber nicht unangenehm schäbigen Eindruck. Hier gab es dunkle Bars, kleine Hotels mit zweifelhaftem Ruf, schmuddelige Büros und Läden, die komische Sachen verkauften wie Gummistempel und Bruchbänder. Ich mochte die Gegend sehr. Es bestand immer die Chance, dass man aus einem höher gelegenen Fenster einen bitterbösen Streit hörte und sich der Hoffnung hingeben konnte, dass es zu einer Schießerei kommen und, wie in den besseren Hollywoodfilmen, jemand aus dem Fenster auf eine Markise fallen oder zumindest, die Hand auf der blutigen Brust, aus einer Tür taumeln und auf der Straße kollabieren würde.
    Danach wurde die Innenstadt aber recht schnell respektabler, das Niveau hob sich, und sie glich mehr einem echten Stadtzentrum. Das pochende Herz der Metropole war zwar eher bescheiden in der Ausdehnung – nur drei, vier Straßen breit und vier oder fünf lang –, aber die hohen Backsteingebäude standen dicht an dicht, und es wimmelte vor Menschen und Leben. Die Luft war schmuddelig und bläulich. Die Menschen liefen mit schnelleren und weiter ausholenden Schritten. Man hatte das Gefühl, in einer richtigen Großstadt zu sein.
    Wenn ich die Innenstadt erreichte, befolgte ich stets das gleiche Ritual. Zuerst ging ich zu Pinky’s, einem Scherzartikelladen im Banker’s-Trust-Gebäude, mit einem riesigen Sortiment an staubigen Juxsachen, die nie jemand kaufte – Plastikeiswürfel mit einer Fliege drin, klappernde Zähne, Gummischeißhaufen für alle Gelegenheiten. Pinky’s existierte nur zu dem Zweck, dass Seeleute, Wanderarbeiter und kleine Jungs etwas hatten, wo sie hingehen konnten, wenn sie in der Innenstadt nicht wussten, wohin mit sich. Ich habe keine Ahnung, wie sie es schafften, sich über Wasser zu halten. Ich kann nur vermuten, dass man in den 1950ern nicht viel verkaufen musste, um solvent zu bleiben. 3
    Wenn ich mir bei Pinky’s alles angeschaut hatte, machte ich ein-, zweimal die Runde im Zwischenstock bei Frankel’s und schaute dann, ob es in der Buchabteilung bei Younkers neue Hardy-Boys-Bücher gab. Normalerweise kehrte ich danach am Erfrischungsstand bei Woolworth’s ein und gönnte mir einen der berühmten Green Rivers, ein erfrischendes Gebräu aus dickflüssiger grüner Brause ( der Schuljungenaperitif der fünfziger Jahre), und zum Schluss lief ich dann zum R&T (für den Register und die Tribune ) an der Ecke Eighth und Locust. Dort nahm ich mir stets eine Minute Zeit, um durch die großen, auf Straßenhöhe an dem Gebäude entlanglaufenden Fenstern einen Blick in die Druckerei zu werfen – potentiell ein hervorragender Ort, an dem man Zeuge einer Verstümmelung werden konnte, dachte ich immer –, und ging anschließend durch die schicke Drehtür ins Foyer des Register , wo ich mich ein paar respektvolle Minuten lang mit dem großen, langsam sich drehenden Globus beschäftigte, der in einem Nachbarraum hinter Glas stand

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