Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
unter der Asche (nach dem Roman Die
Leute von Peyton Place ) kam im Jahr 1957 heraus. Die Nation hatte schon sehnsüchtig darauf gewartet. Der Vorfilm deutete uns unverblümt an, es sei der schärfste Film seit Jahren, woraufhin meine Schwester zu dem Schluss kam, dass sie und ich hineingehen mussten. Warum ich mit von der Partie sein sollte, weiß ich partout nicht. Vielleicht lieferte ich ein Alibi. Vielleicht konnte sie nur dann unbemerkt aus dem Haus entkommen, wenn sie mich babysittete. Ich weiß nur, das ich gesagt bekam, wir würden nach dem Mittagessen am Samstag zum Ingersoll Theater laufen und ich dürfe niemandem etwas verraten. Es war sehr aufregend.
Auf dem Weg dorthin erzählte mir meine Schwester, dass viele der Mitwirkenden in dem Film – vermutlich die meisten – Sex haben würden. Zu der Zeit war Betty, zumindest meinem Dafürhalten nach, die international führende Autorität in Sachen Sex. Ihre Spezialität war es, berühmte Homosexuelle auszumachen. Sal Mineo, Anthony Perkins, Sherlock Holmes und Dr. Watson, Batman und Robin, Charles Laughton, Randolph Scott, natürlich Liberace und ein Mann in der dritten Reihe des Lawrence-Welk-Orchesters, der mir ganz normal vorkam – meine Schwester entlarvte sie alle mit ihrem durchdringenden Blick. Schon 1959, lange bevor irgendjemand darauf gekommen wäre, erzählte sie mir, dass Rock Hudson schwul sei. Ich glaube, sie wusste, dass Richard Chamberlain schwul war, bevor er selbst es wusste. Es war unheimlich.
»Weißt du, was Sex ist?«, fragte sie mich, als wir in der Abgeschiedenheit des Wäldchens waren und im Gänsemarsch über den engen Pfad durch die Bäume liefen. Es war ein winterlicher Tag, und ich erinnere mich deutlich, dass sie einen schicken, neuen roten Wollmantel trug und eine flauschige weiße Mütze, die man unter dem Kinn zuband. Für mich sah sie sehr schick und erwachsen aus.
»Nein, ich glaube eigentlich nicht«, sagte ich oder etwas in der Richtung.
Also erzählte sie mir mit ernster Stimme und sorgfältig gewählten Worten, die klar implizierten, dass es sich um streng vertrauliche Informationen handelte, alles, was man über Sex wissen musste, obwohl sie zu der Zeit erst elf und ihr Wissen sicherlich weniger enzyklopädisch war, als ich damals annahm. Wie dem auch sei, im Prinzip ging es, wie ich es verstand, lediglich darum, dass der Mann sein Ding in ihr Ding steckte, es ein bisschen darin ließ, und dann bekamen sie ein Kind. Ich erinnere mich, dass ich vage überlegte, was diese nicht genauer benannten Dinger waren – sein Finger in ihrem Ohr? Sein Hut in ihrer Hutschachtel? Wer wusste das schon? Egal, sie machten etwas sehr Privates, nackt, und kaum hatten sie sich’s versehen, waren sie Eltern.
Ehrlich gesagt, interessierte mich nicht, wie Kinder gemacht wurden. Ich war aufgeregt, weil wir ein geheimnisvolles Abenteuer bestanden, von dem unsere Eltern nichts wussten, und weil wir tatsächlich durch das Wäldchen wanderten – den mehr oder weniger endlosen, tiefen Schwarzwald, der zwischen dem Elmwood Drive und der Grand Avenue lag. Mit sechs Jahren wagte man sich von Zeit zu Zeit ein, zwei Schritte in das Wäldchen vor, spielte, die Straße stets im Blick, ein bisschen Soldat und trat nach einer Weile (normalerweise, wenn Bobby Stimson an den Giftsumach kam und in Tränen ausbrach) gern, ja, offen gestanden, erleichert, wieder in frische Luft und Sonnenschein. Das Wäldchen war sehr angsterregend, die Luft darin dicker und erdrückender, die Geräusche anders. Man konnte ins Wäldchen gehen und kam nicht wieder heraus. Warum man auch keinesfalls erwog, es als Durchgangsweg zu benutzen. Dazu war es viel zu groß. Nun aber von einer selbstsicher drauflos marschierenden Person hindurchgeführt zu werden und dabei Informationen nur für Eingeweihte zu bekommen, wenn sie auch großteils keinerlei Sinn ergaben, war über die Maßen aufregend. Den Hauptteil der langen Wanderung staunte ich ob der majestätischen Dunkelheit des Wäldchens und hielt mit halbem Auge Ausschau nach Lebkuchenhäusern und Wölfen.
Als sei das noch nicht Aufregung genug, ging meine Schwester, als wir die Grand Avenue erreichten, mit mir über einen geheimen Pfad zwischen zwei Mietshäusern und an der Hinterseite von Bauder’s Drugstore vorbei – ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass Bauder’s Drugstore eine Hinterseite hatte –, und wir kamen fast gegenüber dem Kino heraus. Das war so unglaublich pfiffig, dass ich es kaum fassen
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