Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
konnte. Weil die Ingersoll eine vielbefahrene Straße war, nahm mich meine Schwester an der Hand und brachte uns gekonnt auf die andere Seite – noch eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Ich glaube, ich war noch nie so stolz in Begleitung eines anderen menschlichen Wesens.
Als die Kartenverkäuferin am Eintrittskartenschalter zögerte, erzählte meine Schwester ihr, dass wir einen Cousin in Kalifornien hätten, der in dem Film mitspielte, und unserer Mutter, einer vielbeschäftigten, einflussreichen Frau (»Sie ist Kolumnistin beim Register .«), versprochen hätten, den Film für sie anzuschauen und ihr hinterher ausführlich zu berichten. Die Geschichte entbehrte vielleicht einer gewissen Überzeugungskraft, doch meine Schwester hatte das Gesicht eines Engels, eine entschlossene Art und die flauschige unschuldige Mütze auf, und dieser Kombination musste man einfach trauen. Die Kartenverkäuferin ließ uns also nach einem Augenblick nervenkitzelnder Unsicherheit hinein. Wiederum war ich sehr stolz auf meine Schwester.
Nach diesen Abenteuern war der Film dann eher eine Enttäuschung, besonders nachdem mir meine Schwester gesagt hatte, dass wir doch keinen Cousin in dem Film und auch keinen in Kalifornien hatten. Niemand zog sich nackt aus, und es waren keine Finger in Ohren oder Zehen in Hutschachteln oder in sonst was. Nur Unmengen unglücklicher Menschen redeten mit Lampenschirmen oder Vorhängen. Ich ging zwischendurch in die Männertoilette und versperrte dort die Zellen, aber da es nur zwei gab, war auch das unbefriedigend.
Bald nach diesem Kinobesuch erlebte ich zufällig etwas, das ein wenig mehr Licht auf das Thema Sexualität warf. Ich kam eines Samstags vom Spielen nach Hause, und als ich meine Mutter nicht an den üblichen Stellen fand, beschloss ich spontan, meinen Vater aufzusuchen. Er war gerade an dem Tag von einer langen Reise an die Westküste zurückgekommen – von der World Series mit den White Sox und den Dodgers, wenn ich mich recht erinnere –, und wir hatten uns einiges zu erzählen. Ich rannte in sein Schlafzimmer, weil ich dachte, er sei dort beim Auspacken. Zu meiner Überraschung waren die Rollläden heruntergezogen und meine Eltern im Bett. Sie rangen unter dem Bettzeug. Noch erstaunlicher – meine Mutter schien zu gewinnen. Mein Vater war offensichtlich in Not. Er gab Geräusche von sich wie ein kleines Tier in einer Falle.
»Was macht ihr?«, fragte ich.
»Ach, Billy, deine Mutter sieht nur gerade meine Zähne nach«, erwiderte mein Vater rasch, aber eigentlich nicht glaubhaft.
Einen Moment lang schwiegen wir alle drei.
»Seid ihr nackt da drunter?«, fragte ich.
»Wieso? Natürlich.«
»Warum?«
»Also«, hub mein Vater an, als sei das nun eine längere Geschichte, »uns ist ein bisschen warm geworden. Bei der Arbeit wird einem warm, Zähne und Zahnfleisch und so weiter. Schau, Billy, wir sind hier fast fertig. Warum gehst du nicht runter, und wir kommen gleich nach.«
Angeblich soll man ja nach solchen Erlebnissen traumatisiert sein. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich mich groß darum scherte. Meine Mutter ließ ich allerdings erst nach ein paar Jahren wieder in meinen Mund schauen.
Als ich es schließlich kapierte, kam es als Überraschung, dass meine Eltern miteinander schliefen – dass die eigenen Eltern Sex haben, will man ja nie glauben –, doch es war auch ein wenig tröstlich, denn in den 1950er Jahren Sex zu haben war nicht leicht. Wenn man verheiratet war, der Mann oben lag und die Frau die Zähne zusammenbiss, war es gerade noch erlaubt, doch fast alles andere war damals in den Vereinigten Staaten verboten. So gut wie jeder Bundesstaat hatte Gesetze, die alle Formen von Sex verboten, die als entfernt von der Norm abweichend betrachtet wurden: natürlich Oral- und Analverkehr, offenkundig Homosexualität, selbst normaler, höflicher Sex in gegenseitigem Einverständnis zwischen unverheirateten Paaren. In Indiana konnte man für 14 Jahre ins Gefängnis gesteckt werden, wenn man einer Person unter 21 Jahren half, »Masturbation zu betreiben«, oder sie dazu anstachelte. Die römisch-katholische Erzdiözese desselben Staates ließ etwa zur gleichen Zeit verlautbaren, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr nicht nur eine Sünde, schmutzig und fortpflanzungsmäßig riskant sei, sondern auch den Kommunismus fördere. Wie nun genau eine Nummer im Heu den gnadenlosen Vormarsch des Marxismus förderte, wurde nie expliziert, doch es war auch völlig
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