Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
unerheblich. Entscheidend war, dass man, wenn einmal eine Handlung als dem Kommunismus förderlich galt, wusste, sie war für alle Zeiten verboten.
Denn die Gesetzgeber brachten es nicht über sich, diese Dinge offen zu diskutieren. Meist konnte man gar nicht erkennen, was nun eigentlich verboten war. Kansas hatte (und hat es nach allem, was ich weiß, immer noch) einen Paragraphen, dem gemäß jeder bestraft wurde, und zwar mit aller Härte, der »eines verabscheuungswürdigen, scheußlichen Verbrechens wider die Natur überführt wird, das er mit Mensch oder Tier verübt hat«. Was ein verabscheuungswürdiges, scheußliches Verbrechen wider die Natur wohl war, erfuhr man nicht einmal andeutungsweise. Einen Regenwald abholzen? Sein Maultier mit der Peitsche schlagen? Man wusste es einfach nicht.
Fast so schlimm wie Sex haben war, an Sex zu denken. Als Lucille Ball in Typisch Lucy fast die ganze Sendezeit 1952–53 schwanger war, durfte das Wort »schwanger« nicht benutzt werden. Es könnte ja anfällige Zuschauer dazu reizen, auf dem Sofa isometrisches Muskeltraining zu machen wie unser Nachbar Mr. Kiessler in der St. John’s Road. Von Lucy hieß es, sie sei »in anderen Umständen« – offenbar ein weniger die Gefühle anregendes Wort. Bei uns in Des Moines machte die Polizei 1953 eine Razzia in Ruthie’s Lounge in der Locust Street Nr. 1311 und beschuldigte die Besitzerin Ruthie Lucille Fontanini unzüchtiger Handlungen. Die Handlung war so verstörend, dass zwei Beamte von der Sitte und Polizeihauptmann Louis Volz noch einmal extra dorthin fuhren, um sie sich anzuschauen – wie allem Anschein nach irgendwann einmal die meisten Männer in Des Moines. Die Handlung, stellte sich heraus, bestand darin, dass Ruthie, wenn der Laden voll war, sich von den angeheiterten Herren zu Folgendem beschwatzen ließ: Sie stellte zwei Gläser auf ihre in einem engen Pullover steckende Brust, goß Bier in die Gläser und beförderte diese sodann, ohne etwas zu verschütten, zu einem anerkennend wartenden Tisch.
In ihrer Sturm-und-Drang-Zeit war Ruthie offenbar nicht ohne. Der frühere Reporter des Des Moines Register , George Mills, schrieb in seinen wunderbaren Lebenserinnerungen mit dem Titel Looking in Windows, dass sie »sechzehnmal mit neun verschiedenen Männern verheiratet« und eine ihrer Ehen nach gerade mal 16 Stunden beendet gewesen sei. Da war sie nämlich aufgewacht und hatte gesehen, wie ihr frisch gebackener Gatte ihre Handtasche durchwühlte und den Schlüssel zu ihrem Safe suchte. Die Angewohnheit, ihren Busen als Tablett zu benutzen, kann eigentlich in einem Zeitalter, in dem Post mit einer Rakete befördert wurde, kein so dolles Kunststück gewesen sein. Aber sie wurde landesweit berühmt damit. Ein paar Berge in Korea wurden ihr zu Ehren die »Ruthies« genannt und der Hollywood-Regisseur Cecil B. De Mille besuchte Ruthie’s Lounge zweimal, um die Dame in Aktion zu sehen.
Die Geschichte hat ein Happyend. Richter Harry Grund wies die Anklage auf unzüchtige Handlungen ab, und Ruthie ehelichte schließlich einen netten Mann namens Frank Bisignano und lebte forthin ruhig und zufrieden als Hausfrau. Letzten Gerüchten zufolge ist sie seit dreißig Jahren glücklich verheiratet. Ich fände es schön, wenn sie ihm allabendlich Ketchup, Senf und andere Soßen auf ihrem Busen servierte, weiß es aber natürlich nicht. 8
Für diejenigen von uns, die ein Interesse hatten, nackte Frauen zu sehen, gab es die Bilder im Playboy und anderen Männerperiodika von geringerem Ruf, doch die legal zu erwerben war fast unmöglich, selbst wenn man zu einem der trostloseren Lebensmittelbuden gleich im Osten der Stadt radelte, seine Stimme um zwei Oktaven herunterschraubte und dem lethargischen Verkäufer bei Gott schwor, man sei 1939 auf die Welt gekommen.
Wenn mein Vater im Drugstore mal mit dem Apotheker beschäftigt war (das einzige Mal, dass ich für die Demonstration der komplizierten isometrischen Übungen aufrichtig dankbar war), konnte ich hastig die Seiten durchblättern, doch es war ein nervenzerreißendes Unterfangen, weil der Illustriertenständer aus vielen Ecken des Ladens zu sehen war. Ja, mehr noch, er befand sich direkt neben dem Eingang und war durch ein großes Schaufenster von der Straße aus sichtbar, man stand also da mit offenen Flanken. Eine Freundin der Mutter mochte vorübergehen, einen sehen und Alarm schlagen – direkt vor dem Laden war eine Polizeinotrufbox auf einem Pfosten und wahrscheinlich
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