Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Glückszustände mit ein paar simplen Materialien. Selbst jetzt noch sehe ich vor meinem geistigen Auge die Anzeigen in Boys’ Life . Die A.C. Gilbert Company aus New Haven, Connecticut, versprach einem rundum Freude an ihren genialen Chemiekästen, Mikroskopen mit Zubehör und weltberühmten Erector-Bausätzen. Bei Letzteren handelte es sich um Spielzeug zum Zusammenschrauben; aus kleinen Stahlträgern und anderen, das maskuline Herz erfreuenden Bestandteilen konnte man alle möglichen Wunderwerke der Technik fabrizieren – Brücken, Hebekräne, Karussels, motorisierte Roboter, also nichts, das man auf Tischplatten zusammenbaute und in einer Schublade verstaute, wenn man nicht damit spielen wollte. Es waren Dinge, die ein solides Fundament und jede Menge Platz brauchten. Ich bin beinahe sicher, dass man auf einer der Anzeigen sah, wie ein Junge auf einer Sechsmeterleiter Richtfest für ein Riesenrad feierte, auf dem sein jüngerer Bruder schon eine Probefahrt machte.
Was die Anzeigen nicht sagten, war, dass nur sechs Menschen auf dem Planeten – wahrscheinlich A.C. Gilberts Enkel – ausreichend begütert waren und ausreichend geräumige Villen besaßen, um mit den Baukästen so viel Freude zu haben, wie auf den Bildern verheißen. Ich weiß noch, wie mein Vater einmal vor Weihnachten einen Blick auf das Preisschild einer riesigen, in der Spielwarenabteilung bei Younkers ausgestellten Konstruktion warf und schrie: »Also, dafür kriegt man ja praktisch einen Buick !« Dann hielt er willkürlich andere männliche Vorübergehende an und hatte bald einen kleinen Club erstaunter Gleichgesinnter beisammen. Ich wusste also schon von frühester Kindheit an, dass ich nie ein Erector Set bekommen würde.
Stattdessen machte ich Lobbyarbeit für einen Chemiekasten, den ich in einer ansprechenden, zweifarbigen Doppelseite in Boys’Life gesehen hatte. Laut dieser Anzeige konnte ich mit dem famosen, sich auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand befindlichen Kasten aufregende Atomenergieexperimente veranstalten, die Erwachsenenwelt mit unsichtbarer Schrift verblüffen, Meister im FBI-Fingerabdrückevergleichen werden und hochbefriedigende, enorme Gestänker erzeugen (die eigentlich nicht versprochen wurden, sich aber beim Kauf eines jeden Chemiekastens von selbst verstanden).
Der Kasten, den ich am Weihnachtsmorgen öffnete, besaß die Ausmaße einer Zigarrenkiste – während der in der Zeitschrift Abgebildete die eines Überseekoffers gehabt hatte –, doch ich muss sagen, er war genial mit verheißungsvollen Dingen bestückt: Reagenzgläsern und einem praktischen Gestell, in das man sie stellen konnte, Trichter, Pinzette, Korken, etwa zwanzig kleinen Glasgefäßen mit bunten Chemikalien, von denen mehrere vielversprechend übel rochen, und einem kompakten kleinen Anleitungsbüchlein. Selbstredend stürzte ich mich sofort auf die Atomenergieseite und rechnete schon damit, dass bis zum Abendbrot eine kleine, private Pilzwolke über meiner Werkbank aufsteigen würde. Doch das Handbuch wies mich, wenn ich mich recht erinnere, darauf hin, dass alle Stoffe aus Atomen bestehen und dass alle Atome Energie haben, deshalb also alles Atomenergie hat. Man gieße zwei x-beliebige Dinge in ein Becherglas – wirklich egal, was –, schüttele sie einmal kräftig durch und simsalabim! hat man eine Atomreaktion.
Von der Art waren mehr oder weniger alle Experimente. Das einzige, bei dem auch nur halbwegs was passierte, hatte ich selbst ersonnen. Dazu vermischte ich alle Chemikalien aus dem Kasten mit Babbo-Scheuerpulver, Terpentin, ein wenig Backpulver, zwei Löffeln weißem Pfeffer, einem Klecks gut abgelagertem Meerrettich und einem großzügigen Spritzer Rasierwasser. Sobald diese Ingredienzen zusammenkamen, vergrößerte sich das Volumen um das Tausendfache, quoll über den Rand des Becherglases und auf unsere pfuschneue Arbeitsplatte in der Küche, wo es sofort zu zischen und sprutzeln und qualmen begann und dort, wo die Resopalplatten verfugt waren, ein rosaroter Striemen entstand, der hinfort ein ewiger Quell von Kummer und Verwunderung für meinen Vater war. »Ich versteh es einfach nicht«, sagte er immer wieder und beäugte den Rand der Arbeitsplatte. »Ich muss den Kleber falsch gemischt haben.«
Das schlechteste Spielzeug des Jahrzehnts, vermutlich das schlechteste, das je kreiert wurde, hieß elektrischer Football. Irgendwann in den 1950er Jahren mussten es einmal alle Jungs als Weihnachtsgeschenk entgegennehmen. Es
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