Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
bestand aus einer Schachtel mit den üblichen aufregenden und vollkommen irreführenden Illustrationen, in der sich eine Blechplatte von etwa der Größe eines Frühstückstabletts befand, die wie ein American-Football-Spielfeld bemalt war. Wenn man sie einschaltete, vibrierte sie heftig und 22 Männchen bewegten sich merkwürdig steif und hektisch. Es dauerte eine Ewigkeit, bis man ein Spiel aufgebaut hatte, weil die Männchen furchtbar schwer zu handhaben waren und sowieso immer umfielen und weil man sich in einem fort mit dem Gegner darüber stritt, welche Aufstellungen erlaubt waren und wer als Letzter seinen letzten Mann aufstellen durfte. Denn es war ein klarer Vorteil, wenn man bis zum letztmöglichen Moment warten und dann urplötzlich seinen Angriffsspieler an die Seitenlinie laufen lassen konnte, wo ihm keine Verteidiger in die Quere kamen. Immer endete das Ganze in bitteren Auseinandersetzungen, die sich zuspitzten, wenn man auslangte und – sogar mehrfach – die Lieblingsspieler des Gegners mit dem Finger umschnipste.
Dabei war es im Prinzip unerheblich, wie die Spieler beim Electric Football aufgestellt waren, denn sie liefen eh nie in die Richtung, in die sie laufen sollten. Überhaupt fiel die Hälfte von ihnen sofort um und blieb heftig zuckend liegen, als litte sie an üblen Magenkrämpfen, während die andere in so viele verschiedene Richtungen losschoss, wie Spieler auf den Beinen waren, und sich schließlich in einer Ecke zusammendrängte. Dort warfen sich die restlichen Männchen dann gegen die starren Seitenwände, als wollten sie sich aus einem brennenden Nachtclub retten, dessen Ausgang verriegelt war. Nur der Runningback verharrte zitternd fünf, sechs Minuten lang an Ort und Stelle, drehte sich dann langsam um und glitt ungehindert auf die falsche Endzone zu, bis er an der Twoyardline von seinem verzweifelten Trainer mit dem Finger umgehauen wurde, was weiteren Streit zur Folge hatte.
An diesem Punkt stellte man den Strom ab, richtete alle gefallenen Männchen wieder auf und wiederholte mit penibler Sorgfalt die Aufstellerei. Nach dreien solcher Spiele sagte aber immer einer der Beteiligten: »He, woll’n wir rausgehen und Lumpy Kowalski mit dem Slinky eins überziehen?« Und dann schubste man das Spiel unters Bett, wo es nie wieder angerührt wurde.
Echte Aufregung war nur in Comics zu finden. Es war wirklich das goldene Zeitalter der Comics. Mitte des Jahrzehnts wurden monatlich fast 100 Millionen produziert. Man kann sich kaum noch vorstellen, was für eine zentrale Rolle sie im Leben der Jugend der Nation spielten – ja, und auch im Leben nicht weniger, die ihre Jugend schon hinter sich hatten. Eine Umfrage enthüllte, dass sage und schreibe zwölf Prozent der Lehrer im Land begeisterte Comicleser waren. (Und das waren natürlich nur die, die es zugaben.)
Als Thunderbolt Kid las ich Comics so, wie Ärzte das New England Journal of Medicine lesen, ich wollte fachlich auf dem Laufenden bleiben. Aber ich war ohnehin ein treuer Leser und hätte sie auch verschlungen, wenn ich daraus keinen praktischen Nutzen für mich hätte ziehen können.
Doch gerade als wir so richtige Comicfanatiker wurden, trat eine Krise ein. Steigende Produktionskosten und die Konkurrenz des Fernsehens ließen die Verkäufe stocken. Recht viele Kinder und Jugendliche schauten sich nun lieber Superman und Zorro im Fernsehen an und sahen nicht mehr ein, warum sie die Anstrengung auf sich nehmen sollten, Worte auf einer Seite zu lesen. Wir im Kiddie Corral hatten, ehrlich gesagt, nichts dagegen, wenn solch wankelmütige Fans abfielen, doch für die Branche war es ein fast tödlicher Schlag. In zwei Jahren fiel die Zahl der Comic-Titel von 650 auf gerade mal 250.
Die Hersteller von Comics unternahmen ein paar verzweifelte Schritte, um das Interesse wieder anzufachen. Heldinnen wurden auf einmal ungeniert sexy. Ich erinnere mich, dass ich eine unerwartete, doch überaus angenehme hormonelle Erwärmung verspürte, als ich erstmals Asbestos Lady erblickte, deren Kanonenkugelbrüste und mächtige Lenden in den Satinfetzchen, mit denen ein zeichnerisches Genie sie ausgestattet hatte, kaum Platz fanden.
Für Gefühlsduselei war in diesem neuen Zeitalter kein Platz. Captain Americas halbwüchsiger Gefährte Bucky wurde in einem Heft mit einer Schusswunde ins Krankenhaus eingeliefert, und man hörte nie wieder was von ihm. Ob er starb oder als Krüppel genas und die ihm verbleibenden Jahre im Rollstuhl verbrachte,
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