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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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provokativ von unten umfasst. Die Pose soll symbolisch das Anbieten von Nahrung darstellen, doch in Wirklichkeit bringt sie jeden vorbeikommenden Mann auf ganz andere Gedanken. Manchmal fuhren wir an Samstagen mit dem Fahrrad dorthin und betrachteten die Statue von unten. »Sie steht an dieser Stelle seit dem Jahre 1890«, hieß es auf einem Schild. »Und bringt so manches andere zum Stehen«, witzelten wir immer. Aber man musste ganz schön lange radeln, nur um ein Paar Kupfertitten zu sehen.
    Darüber hinaus blieb uns nur die Möglichkeit, Leute zu beobachten. Ein Junge namens Rocky Koppell, dessen Familie aus Columbus nach Des Moines gezogen war, wohnte eine Zeit lang in einem Apartment im Souterrain des Commodore Hotels und entdeckte ein Loch in der Wand hinter seinem Zimmerschrank, durch das er beobachten konnte, wie sich das Zimmermädchen nebenan aus- und anzog und sich gelegentlich einem ernsthaften Austausch von Körperflüssigkeiten mit einem der Hauswarte hingab. Koppell knöpfte einem 25 Cents für einen Blick durch das Loch ab, verlor aber die meisten seiner Kunden, als sich die Nachricht verbreitete, dass das Mädchen wie Adlai Stevenson, einer der Kandidaten um die Präsidentschaft, aussah, nur weniger Haare hatte.
    Wo man niemals nacktes weibliches Fleisch zu sehen bekam, war im Kino. Das wusste man. Natürlich zogen sich Frauen in Filmen von Zeit zu Zeit aus, doch sie traten dazu immer hinter einen Wandschirm oder schlenderten in ein anderes Zimmer, nachdem sie ihre Ohrringe abgenommen und gedankenzerstreut den obersten Knopf ihrer Bluse geöffnet hatten. Selbst wenn die Kamera bei der Frau blieb, machte sie stets im entscheidenden Moment einen Schwenk nach unten, so dass man nur einen Morgenmantel sah, der um Knöchel fiel, oder einen Fuß, der ins Badewasser stieg. Man kann es nicht einmal als enttäuschend beschreiben, denn man hatte ja keine Erwartungen, die enttäuscht werden konnten. Nacktheit kam einfach nicht vor.
    Wer von uns einen älteren Bruder hatte, wusste von einem Film mit dem Titel Mau Mau , der 1955 anlief. In seiner ersten Version war es ein solider Dokumentarfilm über den Aufstand der Mau-Mau in Kenia, von dem Fernsehnachrichtenmann Chet Huntley vollkommen sachlich geschildert. Doch die Vertriebsgesellschaft, das heißt, ein Mann namens Dan Sonney, befand, der Film sei nicht kommerziell genug. Er heuerte eine einheimische Mannschaft von Schauspielern und Kameraleuten an und ließ in einem Orangenhain in Südkalifornien zusätzliche Szenen drehen, in denen »eingeborene« Frauen oben ohne vor Männern mit Macheten flohen. Die Extraszenen wurden mehr oder weniger willkürlich in den existierenden Film montiert, um das Ganze ein wenig aufzupeppen. Heraus kam ein sensationeller Kassenerfolg, besonders bei Jungs zwischen zwölf und 15. 1955 war ich leider erst vier und verpasste so das einzige nackte Gewackel auf Zelloloid des gesamten Jahrzehnts.
    Als ich ungefähr neun war, bauten wir einmal ein Baumhaus im Wäldchen – ein richtig gutes Baumhaus, denn wir benutzten ein paar erstklassige Materialien, die wir auf einer Baustelle im River Oaks Drive beschlagnahmt hatten –, und dieses Baumhaus diente uns selbstverständlich als Ort, an dem wir uns voreinander auszogen. Das war nicht weiter aufregend, da die Gruppe aus ungefähr 84 kleinen Jungs und nur einem Mädchen bestand, Patty Hefferman, die schon im Alter von sieben Jahren mehr wog als ein großes Erdräumgerät (sie sollte schließlich als Patty »Reines Rindfleisch« bekannt werden) und beim besten Willen niemandes Vorstellung von Erotik entsprach. Sie war aber für ein paar Oreo-Kekse bereit, sich von allen Seiten und so lange, wie jemand Interesse hatte, untersuchen zu lassen, was zumindest in anthropologischer Hinsicht von Nutzen für uns war.
    Das einzige Mädchen aus unserem Viertel, das wir wirklich gern nackt gesehen hätten, war Mary O’Leary. Sie war das hübscheste Kind in Abermillionen Galaxien, doch ihre Kleider zog sie nicht aus. Sie spielte wunderbar mit uns im Baumhaus, wenn es lustig und harmlos zuging, doch in dem Moment, in dem die Angelegenheit schlüpfrig wurde, kletterte sie die Leiter hinunter, blieb unten stehen und schimpfte zornbebend und den Tränen nahe, wir seien widerwärtig und abscheulich. Weswegen ich sie sehr bewunderte, ja wirklich sehr, und oft auch hinunterging (denn ehrlich gesagt, konnte ich Patty Hefferman immer nur in gewissen Mengen genießen, wenn ich das von meiner Mutter gekochte

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