Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Essen hinterher noch verzehren wollte) und Mary nach Hause begleitete, nicht ohne sie überschwänglich für ihre Tugend und Sittsamkeit zu loben.
»Die Jungs sind wirklich fies«, sagte ich, geflissentlich die Tatsache übergehend, dass ich für gewöhnlich dazugehörte.
Ihre Weigerung mitzumachen war eigenartigerweise das Allerprickelndste an der ganzen Übung. Ich liebte Mary O’Leary inniglich und betete sie an. Wenn ich neben ihr auf ihrem Sofa saß und wir fernsahen, betrachtete ich heimlich ihr Gesicht. Es war das Perfekteste, was ich je gesehen hatte – so weich, so sauber, so bereit zu lächeln, so voller rosigen Lichts. In der ganzen Schöpfung gab es nichts derartig Vollkommenes und Herrliches wie ihr Gesicht in dem Sekundenbruchteil, bevor sie lachte.
Im Juli jenes Jahres fuhr ich mit meiner Familie am Unabhängigkeitstag zu meinen Großeltern, wo ich die übliche niederdrückende Erfahrung machte, zuzugucken, wie Onkel Dee normales Essen in fliegende Gipsbröckchen verwandelte. Noch schlimmer, der Fernseher meiner Großeltern war kaputt, und das betreffende Ersatzteil nicht erhältlich. Denn der fröhlich debile, ortsansässige Fernsehtechniker sah sich außer Stande zu der Einsicht, dass es vielleicht nicht verkehrt war, einen Vorrat an Ersatzbildröhren bereitzuhalten – ein Versäumnis, für das er selbstverständlich mit einer Dosis ThunderVision karbonisiert wurde. Ich war jedenfalls gezwungen, das lange Wochenende in der bescheidenen Bibliothek meines Großvaters zu verbringen, die in der Hauptsache aus den gekürzten Büchern von Reader’s Digest, ein paar seichten Romanen von Warwick Deeping und einem großen Pappkarton mit Ladies’ Home Journals bis zurück ins Jahr 1942 bestand. Es war ein anstrengendes Wochenende.
Als ich zurückkam, warteten Buddy Doberman und Arthur Bergen vor unserem Haus. Sie grüßten meine Eltern nur flüchtig und nahmen mich gleich zur Seite. Atemlos erzählten sie mir, dass Mary O’Leary während meiner Abwesenheit ins Baumhaus gekommen sei und sich ausgezogen habe – splitterfasernackt. Sie habe es freiwillig getan, ja sogar in regelrecht träumerischer Selbstverlorenheit.
»Sie war wie in Trance«, sagte Bergen liebevoll.
»Einer glücklichen Trance«, fügte Buddy hinzu.
»Es war wirklich schön«, sagte Bergen, in Erinnerungen schwelgend.
Natürlich weigerte ich mich, auch nur ein Wort davon zu glauben. Sie mussten ein Dutzend Mal bei Gott und auf einem Stoß Bibeln beim Leben ihrer Mütter und einigem anderem ähnlich Ernsthaftem schwören, bevor mein berechtigter Unglauben auch nur ein wenig schwand. Vor allem mussten sie mir jeden einzelnen Moment des Ereignisses schildern, doch dazu war Bergen mit bemerkenswerter Klarheit in der Lage. (Er hatte, wie er in späteren Jahren prahlte, ein pornografisches Gedächtnis.)
»Na, gut«, sagte ich so eifrig, wie Sie sich denken können, »holen wir sie und versuchen es noch mal.«
»O nein«, erklärte Buddy. »Sie hat gesagt, sie würde es nicht noch mal machen. Wir mussten schwören, wir würden sie nie mehr fragen. Das war die Bedingung.«
»Aber«, stotterte ich entsetzt, »das ist ungerecht.«
»Das Komische ist«, fuhr Bergen fort, »dass sie gesagt hat, sie hätte es sich schon länger überlegt, aber lieber gewartet, bis du mal nicht da wärst, weil sie dich nicht traurig machen wollte.«
»Mich traurig machen? Traurig? Ist das euer Ernst? Meint ihr das ernst?«
Die Delle auf dem Bürgersteig, gegen den ich die nächsten 14 Stunden den Kopf schlug, ist immer noch zu sehen. Und Mary O’Leary hielt Wort. Sie kam nicht einmal mehr in die Nähe des Baumhauses.
In einem Moment der Erleuchtung zog ich kurz danach alle Schubladen aus der Geheimkommode meines Vaters, um zu sehen, ob und was darin versteckt war. Zweimal im Jahr, im Frühling und Herbst, wenn er zum Frühjahrstraining und zur World Series fuhr, nahm ich ohnehin sein Zimmer auseinander und suchte verloren geglaubte Zigaretten, herrenloses Kleingeld und Beweise, dass ich wirklich vom Planeten Electro stammte – vielleicht einen Brief von King Volton oder dem Kongress von Electro, in dem eine fette Belohnung versprochen wurde, wenn man mich heil großzog und sicherstellte, dass alle meine Wünsche erfüllt wurden.
Da ich diesmal mehr Zeit als sonst hatte, zog ich die Schubladen ganz heraus, um zu sehen, ob etwas dahinter oder darunter war und fand meines Vaters bescheidenen Vorrat an Pornoheften, der aus zwei Explaren bestand; das eine
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