Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
sonderlich gut funktionierte. Im Sommer 1962 zündeten Wissenschaftler im Dienste des Verteidigungsministeriums eine Wasserstoffbombe, die sie tief unter der Wüste von Frenchman Flat in Nevada begraben hatten. Die Explosion war so deftig, dass das Land darum herum sich um etwa 100 Meter hob, aufplatzte wie ein sehr schlimmes Furunkel und ein Krater von circa 250 Metern Durchmesser entstand. Überall flog Explosionsmüll hin. »Um vier Uhr nachmittags«, schrieb der Historiker Peter Goodchild, »war über Ely, Nevada, 200 Meilen vom Zentrum der Explosion entfernt, die radioaktive Wolke so dicht, dass die Straßenbeleuchtung eingeschaltet werden musste.« Sichtbarer Niederschlag schwebte auf sechs Staaten im Westen und zwei kanadische Provinzen hernieder, doch keiner gab das Fiasko offiziell zu, und es ergingen keine öffentlichen Warnungen an die Bevölkerung, in denen ihr geraten wurde, keine frische Asche zu berühren und die Kinder davon fernzuhalten. Ja, umgekehrt, die Einzelheiten des Vorfalls blieben zwei Jahrzehnte lang geheim, bis ein neugieriger Journalist sich auf das Recht des freien Zugangs zu Informationen berief, Klage einreichte und dann herausfand, was an dem Tag geschehen war. 9
Während wir darauf warteten, dass uns die Politiker und das Militär einen echten Dritten Weltkrieg bescherten, boten uns die Comics mit Gusto einen imaginären. Auf dem Markt erschienen allmonatlich Titel wie Atomic War! und Atom-Age Combat und wurden bei den Kennern im Kiddie Corral sehr begehrt. Die visionären Verfasser der Comics nahmen, raffiniert, wie sie waren, den Generälen und anderen hohen Tieren die Atomwaffen weg und legten sie in die Hände gemeiner Infanteristen, die dergestalt unerschöpfliche Horden vorrückender chinesischer und russischer Truppen mit Atomraketen, Atomkanonen, Atomgranaten und sogar Atomgewehren mit Atomkugeln wegpusten konnten! Atomkugeln! Was für eine herrliche Idee! Was für ein packendes Blutbad. Bis die Asbestos Lady sich in mein Leben schlich und mein junges Herz und meine zuckenden Lenden eroberte, waren die Atomkriegscomics für mich die befriedigenste Form der Unterhaltung, die es gab.
Eigentlich aber mussten die Menschen sich in den 1950er Jahren über viel schlimmere Dinge Sorgen machen als über atomare Vernichtung. Nämlich über Kinderlähmung, darüber, dass sie sich das Gleiche leisten konnten wie die Nachbarn, darüber, dass Neger ins Viertel zogen, über Ufos. Vor allem aber über Teenager. Jawohl. Teenager wurden in den Fünfzigern ein Hauptgrund zur Sorge für die amerikanischen Bürger.
Natürlich gab es seit unvordenklichen Zeiten unausstehliche, halb erwachsene menschliche Wesen mit unreiner Haut. Doch als gesellschaftliches Phänomen war die Pubertät brandneu. (Das Wort Teenager wurde erst 1941 geprägt.) Als Teenager also sichtbar auf der Bildfläche erschienen, und zwar eher wie Mutantengeschöpfe in einem der vielen hervorragenden Science-Fiction-Filme des Jahrzehnts, wurde den Erwachsenen blümerant. Teenager rauchten, gaben Widerworte und machten auf Autorücksitzen Petting. Sie redeten Ältere mit respektlosen Namen an wie »Pops« und »Daddy-o«. Sie grinsten süffisant. Sie kurvten in endlosen Runden um alle günstig gelegenen Geschäftsviertel. Sie kämmten sich bis zu vierzehn Stunden am Tag. Sie hörten Rock ’n’ Roll, eine energiegeladene Musik, die eindeutig nur dazu erdacht war, Halbwüchsige zu animieren, Unzucht zu treiben und Haschisch zu rauchen. »Wir wissen, dass viele Halbstarke Kiffer sind«, schrieben die Autoren des populären Buchs USA Confidential , stolz ihre Beherrschung des Straßenjargons demonstrierend. »Viele andere sind Rote oder Linke oder untergraben sonstwie Sitte und Anstand.«
Filme wie Der Wilde ; Denn sie wissen nicht, was sie tun; Die Saat der Gewalt ; Mit siebzehn am Abgrund ; Teenage CrimeWave ; Mannstoll und gefährlich und (wenn ich mir erlauben darf, einen persönlichen Favoriten zu nennen) Teenagers from Outer Space erweckten den Eindruck, dass die gestörte Jugend der Nation aus unerklärlichen Gründen nur noch Randale machte. Die Saturday Evening Post bezeichnete die Jugendkriminalität als »Schande Amerikas«. Time und Newsweek brachten beide Titelgeschichten zu den neuen jungen Rowdys. Unter Vorsitz von Estes Kefauver hielt der Senatsunterausschuss für Jugendkriminalität eine Reihe aufwühlender Anhörungen ab über das Zunehmen von Straßenbanden und das damit einhergehende ungebührliche
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